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Neurolinguistische Diagnostik

 

 

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Abbildung 19: Kartierungstest im Operationssaal(Quelle: CALVIN/OJEMANN 1995:59)

``Ich weiß, was das ist'', sagt Neil. ``Das ist ein, äh, ein ...'' George entfernt den elektrischen Stimulator von Neils Kortex. ``Ein Elefant``, sagt Neil schließlich etwas gereizt.
(CALVIN/OJEMANN 1995:59)
Elektrische Stimulationen an gewissen Stellen des offen gelegten Kortex bewirken ganz bestimmte Wortfindungsstörungengif bei der Objekt- bzw. Bildbenennung.gif Sobald die elektrische Reizung ausbleibt, kann der sonst sprachgesunde Proband Neil das dargebotene Objekt in Form eines Bildes problemlos benennen. Über das experimentelle Verfahren des Bildbenennens ist es dem Neurophysiologen möglich, künstlich erzeugte Wortfindungsstörungen zu überprüfen. Ziel dieses Vorgehens ist es, eine Gehirnkarte mit den sogenannten ``Benennungs-Stellen'' in Neils Gehirn zu zeichnen. Objekt- bzw. Bildbenennungsaufgaben sind aber nicht nur der Gehirnforschung äußerst dienlich, sondern können auch als neurolinguistische Benennexperimente aphasische Wortfindungsstörungen überprüfen und bestimmen.gif Aphasische Störungen in der Produktion von Wörtern werden somit häufig über neurolinguistische Benennexperimente diagnostiziert, denn STACHOWIAK (1979) erkennt:
Es sind experimentelle Studien erforderlich, in denen auf der Grundlage der Reaktionen möglichst vieler Patienten repräsentatives Datenmaterial zusammengestellt werden kann. Besonders geeignet erscheinen Benennungsexperimente, die so konstruiert werden, daß nur ein bestimmtes Zielwort als Reaktion zu erwarten ist, und somit im Falle von Fehlleistungen die semantische Relation zu diesem Zielwort kontrollierbar ist.
(STACHOWIAK 1979:61)
Daher werden im vorliegenden Kapitel neurolinguistische Studien angeführt, die im überwiegenden Maße diesen Aufgabentypus zur Überprüfung aphasischer Wortfindungsstörungen einsetzen. LEUNINGER (1986:233f.) macht aber darauf aufmerksam, daß Schlüsse aus Benennexperimenten nur mit Vorsicht zu ziehen sind und daß die geforderte Leistung keine typische Sprachgebrauchsfunktion erwachsener, kompetenter Sprecher ist. Dieser anmahnenden Achtsamkeit soll im vorliegenden Abschnitt nachgegangen werden.
Als Grundlage für den Benennvorgang von Objektabbildungen dient das Wortproduktionsmodell von LEVELT (1989), in dem den Modalitäten Bild und Wort eines Begriffes unterschiedliche Kodierungen zukommen.gif Grundsätzlich kann der Objektbenennungsprozeß wie folgt ablaufen: Eine primär perzeptuelle Analyse bildet den Ausgangspunkt. Das Stimulusitem wird vom Betrachter sinnlich wahrgenommen und unabhängig von seiner Perspektive als Exemplar einer bestimmten Kategorie erkannt (KOTTEN 1997:16).gif Nach dem Vorgang des Objektwahrnehmens wird ein vorsprachliches Konzept zum Stimulusobjekt entwickelt mit anschließender Aktivierung der geforderten Wortbedeutung in der Verarbeitungskomponente. Die erfolgreiche Identifikation im semantischen System führt zur Selektion einer lexikalischen Einheit mit anschließender Produktion des selektierten Elements.
Der Vorgang der Objektbenennung wird aber beeinflußt von verschiedenen Kontextfaktoren wie beispielsweise der Farbgebung des Zielobjektes, die über den Gesichtssinn, die visuelle Modalität, wahrgenommen wird. Bereits Sigmund Freud hat 1891 in seiner Monographie ``Zur Auffassung der Aphasien'' geschrieben, daß
das Wort [...] seine Bedeutung durch die Verknüpfung mit der ``Objektvorstellung'' [Objektassoziation], wenigstens wenn wir unsere Betrachtung auf Substantiva beschränken [erlangt].
(FREUD19922:122)
In seinem ``Psychologischen Schema der Wortvorstellung'' pflegt besonders die visuelle Modalität im Gegensatz zu der olfaktorischen oder taktilen Modalität einen engen Kontakt zu den verschiedenen Wortbildern und nach PEUSER (1978:124) kommt diesem Modell immer noch [...] patholinguistische Relevanz zu. Es kann nämlich davon ausgegangen werden, daß visuelle Stimuli eine besonders starke exzitatorische Aktivierung in semantischen Feldern erzeugen.gif WOLFF (1897) erläutert die für den Menschen zentrale Größe der visuellen Modalität in überzeugender Weise:
In der Regel ist [der] prädominierende Sinn der Gesichtssinn [die visuelle Modalität]. Dies kommt eben daher, daß der Gesichtssinn in unseren Wahrnehmungen die Hauptrolle spielt. Daß bei der Vorstellung verschiedener Gegenstände die verschiedenen Sinne eine Rolle spielen, ist unmittelbar einleuchtend. Die Vorstellung von Rose enthält die Vorstellung von Form und Farbe, also optische und taktile Vorstellungen, sie enthält die Vorstellung des Duftes, also eine olfaktorische Vorstellung; sie enthält aber nichts Akustisches. [...] So enthalten die meisten Gegenstandsvorstellungen sinnliche Teilvorstellungen, von denen beim normalen Menschen in der Regel jede einzelne genügt, die Vorstellung des ganzen Gegenstandes, also auch die Erinnerungsvorstellung der anderen sinnlichen Eigenschaften des betreffenden Gegenstandes zu reproduzieren. [...] Nun ist es aber einleuchtend, daß in der Vorstellung eines Gegenstandes die einzelnen sinnlichen Teilvorstellungen keineswegs die gleiche Rolle spielen, sondern daß hierbei einzelne Qualitäten mehr hervortreten als andere [...].
(WOLFF 1897:32f.)
Trotz dieser über hundert Jahre alten Erkenntnis werden laut HILLERT (1990b:136) aphasische Fehlleistungen in Objektbenennungsaufgaben bestimmt, ohne allerdings den beteiligten nicht-sprachlichen Bereich ausreichend zu berücksichtigen. Die Entscheidung für bestimmte Stimulusitems, etwa schwarz-weiß Strichzeichnungen oder Farbfotos, sollte nach SCHMIDT (1997) und Mitarbeitern nicht willkürlich getroffen werden. In einem von ihr an sprachgesunden Probanden durchgeführten Experiment zum Objektbenennen konnte ein Reaktionszeiteffekt bei Benennungen von farbspezifisch dargebotenen Objekten (Stimulusitem: BANANE; Farbpräsentation: GELB) beobachtet werden. Die Darbietung von Objekten mit spezifischer Farbe erbrachten eine schnellere Antwortreaktion von den Probanden als Objekte mit unspezifischer Farbe oder Schwarz-weiß Strichzeichnungen. Somit konnte ein Reaktionszeitvorteil für dargebotene Objekte wie BLATT und BANANE mit ihren spezifischen Farben GRÜN und GELB beobachtet werden. Auf Objekte wie SCHUH oder AUTO hingegen, die durch verschiedene Farben realisiert werden können, wirkt sich kein Effekt auf die Reaktionszeit aus.gif Hinsichtlich dieses Ergebnisses postulieren SCHMIDT (1997:181) und ihre Mitarbeiter eine konzeptuelle Verarbeitung von Objektfarbinformationen, sprechen sich aber dagegen aus, daß die Reaktionszeitverkürzung bei farbigen Stimuli durch die Wirkung von Farbe als allgemeiner Aufmerksamkeitscue bedingt ist.gif
Die konzeptuelle Verarbeitung von Farben sollte auch in der Diagnose und Therapie von Aphasien berücksichtigt werden, denn laut SCHMIDT (1997:192) arbeiten die standardisierten Tests wie beispielsweise der Aachener Aphasie Test (AAT) ausschließlich mit nichtfarbigem Material. Daher schlägt sie vor, das aphasische Reaktionszeitverhalten beim Objektbenennen sowohl mit spezifischer als auch ohne spezifische Farbe, farbspezifische Objekte in dargebotener falscher Farbe und schwarz-weiß Strichzeichnungen miteinander zu vergleichen. STACHOWIAK (1979:55) berücksichtigt die in der Benennung miteinfließenden nicht-sprachlichen Kontextfaktoren vorbildlich und fordert, daß Benennungstests möglichst Objektbilder enthalten, für die es nur eine einzige korrekte Bezeichnung gibt. Vor diesem Hintergrund dienten bei ihm ausschließlich Farbfotos als Stimuluswörter. Zusätzlich zur Farbpräsentation bot STACHOWIAK (1979) den Patienten Objekte in Abbildungen an, die als Prototypen ihre semantische Klasse vertreten, denn auch aphasische Patienten verarbeiten bevorzugt nach Prototypenkriterien (EVERS-VOLPP 1988:8).
Auf der Basis von LABOVs (1973) modifiziertem Tassenexperimentgif belegen neurolinguistische Benennexperimente von WHITEHOUSE et al. (1978), daß Aphasiker beim Benennvorgang einen Prototypikalitätseffekt aufweisen. Aphasische Patienten konnten demnach prototypische Exemplare aus einer semantischen Kategorie häufiger korrekt benennen als nicht-prototypische Exemplare. Zudem ist aus der vorliegenden Benennungsaufgabe ein signifikanter syndromspezifischer Unterschied herausgearbeitet worden, auf den kurz eingegangen werden soll. Broca-Aphasiker benannten analog zu sprachgesunden Probanden prototypische Bilder problemlos, ohne den zusätzlich dargebotenen Kontextgif zu berücksichtigen. Bei dargebotenen nicht-prototypischen Bildern beachteten sie die funktionale Information. Wernicke-Aphasiker hingegen ließen die zusätzlich präsentierte funktionale Information überwiegend unberücksichtigt. Sie hatten Schwierigkeiten, innerhalb eines semantischen Feldes untypische von typischen Exemplaren abzuspalten.gif Die Wernicke-Aphasiker - möglicherweise auch amnestische oder rückgebildete Wernicke-Aphasiker - haben wahrscheinlich Schwierigkeiten, Objekte nach ihren definierenden semantischen Merkmalen zu klassifizieren, daher
scheint also die semantische Struktur von Begriffen bzw. die Differenzierung nach semantischen Merkmalen nur ungenügend vorhanden zu sein, während sie bei Broca-Aphasikern noch relativ intakt ist.
(SCHMIDT-HEIKENFELD 1987:10)
Ergebnisse aus einer Benennungsaufgabe von BROWNELL (1978) sowohl an sprachgesunden als auch an sprachgestörten Versuchspersonen belegen, daß Objekte schneller auf der Basisebene benannt werden als Objekte auf der über- oder untergeordneten Ebene. In der Regel werden prototypische Objekte somit zuerst auf der Basisebene kategorisiert und mit einem Basisnamen benannt. Aphasische Patienten zeigen denselben Effekt. Selbst weniger prototypische Objekte werden in ihrem Versuch mit einem Basisnamen (Stimuluswort: RENNWAGEN; Antwort: Auto) benannt, woraufhin häufig das intendierte Stimuluswort verzögert abgerufen werden kann, wie der vorliegende Benennversuch eines Patienten zeigt: Auto, das schnell fährt oder Auto, Rennwagen. Nach HILLERT (1990b:143) weisen derartige Prototypikalitätseffekte auf die gesonderte Funktion eines `aktiven Lexikons' (Alltagslexikons) hin. Vor diesem Hintergrund können einfache perzeptuelle Prozesse abgespeicherte Basiskonzepte in ``unserem Kopf'' aktivieren.
Wer soziale Aspekte beim Vorgang des Objektbenennens für bedeutsam erachtet, hat nach DEUTSCH (1994:19) schlechte Karten. Es kann aber angenommen werden, daß aphasische Patienten von der sie umgebenden Benennsituation beeinflußt werden. Benennungen haben eine soziale Funktion, indem sie einem Partner die richtige Identifikation eines Objektes, das mit anderen verwechselt werden kann, möglich machen (DEUTSCH 1994:19). Sowohl sprachgesunde als auch sprachgestörte Probanden passen sich somit mit ihren Benennungen an die aktuelle Lage und an die Bedürfnisse des Adressaten an. Dem Benennvorgang liegt ein adaptives und kontextspezifisches Verhalten zugrunde.
Die Beziehung zwischen Gegenstand und Wort sowie Wort und Bedeutung ist nicht festgeschrieben, sondern muß nach Maßgabe der Situation und dem Informationsdefizit des Adressaten vom Sprecher immer wieder neu geschaffen werden. Kognitive Prozesse entscheiden also darüber, welche Wörter in einer bestimmten Situation für die Benennung eines bestimmten Gegenstandes verwendet werden und wie die Bedeutung einer sprachlichen Benennung zu verstehen ist.
(DEUTSCH 1994:21)
Der folgende Fall verdeutlicht, wie sich die aktuelle Situation/Lage auf die Benennung des geforderten Stimuluswortes ausübt. STACHOWIAK (1979) beobachtet in einem Benennexperiment einen Aphasiker, der das intendierte Stimuluswort nur deshalb nicht produzieren konnte, weil durch die künstliche Benennsituation ein nicht-kommunikativer referentieller Akt zu vollziehen war.
Z.B. konnte ein Patient in einem Benennungstest einen auf einer Strichzeichnung abgebildeten Soldaten nicht als Soldat benennen. Auf die Frage, ob er denn Soldat gewesen sei, antwortete er: ``Aber sicher war ich Soldat, ich war sogar Offizier'', und dann erzählte er alles mögliche aus dem Krieg. In diesem propositionellen Akt ``Ich war Soldat'' war die Wortform ohne weiteres abrufbar. Als er dann unmittelbar wiederum den abgebildeten Soldaten benennen sollte, hatte er denselben Block wie zuvor.
(STACHOWIAK 1982:13)
Benennungen, die in einen sozial-kommunikativen Kontext eingebunden sind, führen eher zu einer Antwortreaktion, als die in Benennexperimenten vorherrschende und von Helen Leuninger kritisierte künstlich geschaffene Sprachgebrauchssituation. So irritiert meines Erachtens in neurolinguistischen Benennexperimenten, wie DEUTSCH (1994:18) schon an den ersten Benennexperimenten des späten 19. Jahrhunderts bemängelt, die Ausklammerung des sozialen Aspektes des Sprachgebrauchs mit dem ausschließlich einseitigen Interesse daran,
[...] wie schnell visuelle Vorlagen erkannt und wie schnell auf diesem Wege die dazu passenden Wörter hervorgerufen werden. Benennen um des Benennen willen!gif
(DEUTSCH 1994:18)
STACHOWIAK (1979) fordert in seinen Ausführungen, den von SEILER (1975) im Rahmen des Kölner Universalienprojektes aufgestellten universellen Aspekt bei Benennungsexperimenten zu beachten. Dieser Aspekt beinhaltet,
daß alle Sprachen [...] sich bestimmte strukturelle Möglichkeiten schaffen, um Wörter deskriptiv zu machen. Dies ist notwendig, um alle Objekte der Welt bezeichnen zu können [...].
(STACHOWIAK 1979:66)
Hier wird die Unterscheidung des Vokabulars für Wörter, die bloß einen Gegenstandsbezug herstellen und solchen, die einen deskriptiven semantischen Gehalt haben favorisiert. Einen hohen Grad an Deskriptivität haben im Deutschen beispielsweise die Nomina Komposita wie Geschirrspüler oder Nußknacker, deren prädikativer Charakter aufgrund der in der Wortform enthaltenen Elemente wie Agens und Objekt (STACHOWIAK 1979:68) sehr transparent sind. Bezüglich ihrer linguistischen Struktur können Objekte sehr genau beschrieben werden. Im folgenden ist daher zu beachten, inwiefern der Grad der Deskriptivität eines Wortes sich in Benennungsaufgaben auswirkt, und [...] ob es im aphasischen Sprachverhalten zu unterschiedlichen Reaktionen führt (STACHOWIAK 1979:67).
Abschließend kann festgehalten werden, daß die Art und Weise der Präsentation von Objektabbildungen einen wesentlichen Einfluß auf das aphasische Benennverhalten ausübt, da auf den Benennprozeß unterschiedliche sprachliche und nicht-sprachliche Faktoren wirken und bestimmte Benenneffekte auslösen.
Daraus wird deutlich, daß es sich bei der Untersuchung der lexikalischen Performanz von Aphatikern [Aphasikern] mittels Bilder bereits um eine derartig starke Reizung des semantischen Netzwerks handelt, daß von einer normalen Wortfindungssituation nicht mehr die Rede sein kann: die scheinbar objektive Untersuchung ist damit bereits ein Deblockierungsexperiment.
(PEUSER 1978:124)




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Sun Jan 30 19:15:22 MET 2000