Abbildung 28: Paraphasische Nomina Komposita in Benennungsaufgaben
Es lassen sich drei Fehlertypen beobachten, die nach BLANKEN (1997)
als sogenannte ``Elaborationen'', ``Simplifizierungen'' und ``komplexe
Ersetzungen'' klassifiziert werden. Erstere machen den Hauptteil der Fehlleistungen
von WL aus. Der Aphasiker WL kann zunächst fragmentarisch nur eine
Komponente äußern, wobei das Stimuluswort oder ein anderes Kompositum
jedoch in einer Fortsetzung des Benennversuchs vollständig ergänzt
werden kann. Die korrekte Identifizierung des Stimulusitems glückt,
nur die semantisch gesteuerte Aktivierung der komplexen Zielform [...]
(BLANKEN 1997:210) mißlingt beim ersten Benennversuch.
Bei ``Simplifizierungen'' wird nur eine der beiden im Kompositum enthaltenen
Komponenten, entweder die Determinativ- oder die Basiskomponente (erste
und zweite Komponente) fehlerfrei benannt und zeigt somit eine richtige
Annäherung an das intendierte Kompositum an, auch wenn das erwartete
Zielwort ausbleibt.
Die Klassifikation der Benennreaktion durch ``komplexe Ersetzungen''
besteht aus der Produktion von Nomina Komposita, die jedoch nicht dem Zielitem
entsprechen. Bei dem Patienten kamen neben der Ersetzung beider Komponenten
(Notnagel anstatt SCHUHSOHLE) auch Substitutionen vor, die sich
nur auf eine der beiden Komponenten beschränkte, beispielsweise Blumensaft
anstelle von BLUMENSTRAUSS. Hier kam es auch zum Einsetzen von semantisch
leeren Stellvertreterwörtern wie
Dingeimer anstatt MÜLLEIMER.
Gerade die ``komplexen Ersetzungen'' belegen nach BLANKEN (1997:210),
daß
sich die Substitutionsprozesse auf die morphologisch definierten Wortabschnitte
beziehen. So führen die vorliegenden Befunde G. Blanken zu der
Annahme
einer morphembezogenen Aktivierung und Komposition der Zielformkomponenten unter der Kontrolle semantisch-syntaktischer Einheiten (Lemmata)[,]er weist damit die von einigen Forschern aufgestellte Hypothese eines ganzheitlichen, wortbezogenen Abrufs der lexikalischen Formrepräsentation solcher Komposita zurück. Das beobachtete aphasische Fehlermuster zeigt nämlich anschaulich, daß die Komponenten der semantisch transparenten Nomina Komposita einzeln aktiviert und zum Gesamtwort komponiert werden müssen.
(BLANKEN 1997:195)
Der nötige Zugriff auf zwei Formkomponenten pro Kompositum bietet eine Erklärung an für den drastischen Leistungsabfall bei den Komposita im Vergleich zu den Simplizia.Weiterhin kann festgehalten werden, daß bei der Produktion von ``Elaborationen'' oder ``Simplifizierungen'' überwiegend die Basiskomponente zuerst genannt wird. Für die meisten der hier benutzten Komposita scheint somit der Prozeß der lexikalischen Aktivierung bei der letzten semantisch allgemeineren Komponente anzusetzen. BLANKEN (1997) kommt zu einer interessanten Interpretation:
(BLANKEN 1997:210)
Für den Zeitverlauf der Aktivierung bedeutet dies, daß eine inverse Struktur vorliegt, derart, daß die Determinativkomponente zuletzt aktiviert wird bzw. langsamer verfügbar ist, jedoch als erste geäußert werden muß.Bei dem aphasischen Patienten kann anschaulich beobachtet werden, daß die morphologischen Segmente die relevanten Schnittstellen bilden, an denen seine Fehlerproduktion einsetzt, so daß folglich angenommen werden kann, daß morphembezogene Kompositionsprozesse [...] eine nicht zu vernachlässigende Rolle für die menschlichen Sprachproduktionsprozesse spielen (BLANKEN 1997:212). Die semantische und morphologische Zielwortstruktur scheint das Fehlermuster zu beeinflussen. Auch bei den paraphasischen Antworten bleibt die kompositionelle Struktur erhalten.
(BLANKEN 1997:211)
ROCHFORD/WILLIAMS (1965) stellten in einer Objektbenennungsaufgabe fest,
daß die Gebrauchshäufigkeit (Frequenz) der ersten Komponente
der Komposita die Benennleistung aphasischer Patienten beeinflußt.
Eine sich anschließende hoch- oder niederfrequente Endkomponente
übt dabei keinen Einfluß auf die Benennleistung aus. AHRENS
(1977) bestätigt diesen sogenannten ``Positionseffekt'' und konnte
weiterhin beobachten, daß die Verb-Nomen-Zusammensetzung wie bei
Schnürband
einen positiven Effekt auf die Produktion polymorphematischer Wörter
ausübt. Dieser Typ von Zusammensetzung erleichtert im Gegensatz zum
reinen Nominalkomplex den Zugang zum Kompositum.
Nach BLANKEN (1997) gibt es aber erst wenige Studien, die das mündliche
Produzieren von Nomina Komposita bei aphasischen Patienten analysiert.
Auch wenn die experimentelle Psycholinguistik und neurolinguistische Studien
sich seit kurzer Zeit verstärkt für die Repräsentation und
Verarbeitung polymorphematischer Wörter interessieren, steht die kompositionelle
Morphologie im Gegensatz zur Flexions- und Derivationsmorphologie im Hintergrund.