Eine bestimmte Klasse von Antworten als Ergebnis einer Kompensationsstrategie anzusehen [...] und eine andere Klasse als Ausdruck eines [semantischen Defizits], beruht auf der Berücksichtigung bestimmter theoretischer Erwägungen und besitzt keine empirische Grundlage. Entsprechend ist es möglich, gerade umgekehrt zu argumentieren: Syntagmatische oder assoziative Antworten könnten durch eine Auflösung der mit dem Zielnamen verbundenen Konzeptstruktur entstehen, und paradigmatische Antworten spiegeln Merkmale einer intakten Konzeptstruktur des nicht abrufbaren Zielnamens wider.Die paradigmatische Antwort Tisch anstelle von STUHL weist nach HILLERT-
(HILLERT 1990b:138)
Abgesehen von den beiden verwendeten Klassifikationsmustern zur Bestimmung der aphasischen Störungsursache liefert beispielsweise ein von STACHOWIAK (1982) diagnostizierter Aphasiepatient Anzeichen, die es ermöglichen, die in Benennexperimenten ausbleibenden Antwortreaktionen als Zugangsstörung zu interpretieren. Der aphasische Proband zeigte sich zwar unfähig, die dargebotene Abbildung eines Soldaten über einen referentiellen Akt zu vollziehen, produzierte aber die lexikalische Einheit Soldat über einen propositionellen Akt wie Ich war Soldat. Daraus kann gefolgert werden, daß dem Patienten aufgabenspezifisch ein Weg zur geforderten Lautstrukur bereitsteht, während andere Zugänge zur Lautform durch einen ``eingestürzten Tunnel'' blockiert sind. Demgemäß ist bloß der modalitätsspezifische Zugang zu einem ansonst intakten Lexikon gestört [...] (LEUNINGER 1986:225), was sich beim Patienten durch fluktuierende Leistungen bemerkbar macht.
So werden fluktuierende Leistungen des Patienten, aber auch das Vorkommen von Wortsubstitutionen, die zum Stimulusitem nicht nur semantische, sondern auch phonologische Ähnlichkeiten aufzeigen, wie Floß anstatt BOOT, als Ausdruck von Problemen beim Zugang zur Lautstruktur gewertet. Doch vor dem Hintergrund, daß sich die in Benennexperimenten diagnostizierten semantischen Paraphasien einerseits als eine Störung des zentralen semantischen Systems, andererseits auch durch eine (modalitätsspezifische) Zugangsstörung interpretieren lassen, kann die über ein Jahrzehnt alte Position von H. Leuninger nicht als überholt betrachtet werden.
Ich möchte mich [...] weder für die eine noch für die andere Position entscheiden, im wesentlichen deshalb, weil ich der Auffassung bin, daß sich aus der mir bekannten Evidenz kein starkes Argument für die eine oder andere Position konstruieren und verteidigen läßt.Hingegen fällt das Urteil von D. Hillert über die Aussagekraft semantischer Wortsubstitutionen vernichtend aus, denn für ihn liefern semantische Paraphasien
(LEUNINGER 1986:225)
per se [...] weder Evidenz für die Annahme, daß aphasische Patienten lexikalisch-[semantisch] gestört sind, noch vermitteln sie einen detaillierten Einblick in die [semantische] Organisationsstruktur des Lexikons.So eröffnen neurolinguistische Befunde an aphasischen Patienten, die unter semantischen Störungen in einzelnen sensorischen Modalitäten leiden, gegenwärtig einen weiteren wichtigen Themenkomplex für die neurolinguistische Semantik-Forschung. Ihr Interesse liegt vordergründig in der Beantwortung der Frage, ob multiple semantic representation systems [...], zum Beispiel eines für visuell-semantische und ein anderes für verbal-semantische Repräsentationen zu postulieren sind (BLANKEN 1991:16). Der folgende Abschnitt beschäftigt sich eingehender mit modalitätsspezifischen Störungsformen, die bei sprachgestörten Menschen aber nur selten auftreten.
(HILLERT 1990b:139)