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Die Zugangsstörung: Der ``eingestürzte Tunnel''

Unter der häufig verwendeten Klassifikation von semantisch bzw. konzeptuell abweichenden aphasischen Objektbenennungsantworten kommt hier das konzeptuelle Antwortmuster zur Geltung. Die zum Stimuluswort in syntagmatischer Relation stehenden aphasischen Fehlleistungen wie bellen statt HUND beruhen nach der Auffassung einiger Forscher auf einer sogenannten ``Kompensationsstrategie'', die sich als Zugangsstörung interpretieren läßt. Das Ergebnis dieser aphasischen Beschreibungsversuche wird als Ausdruck einer nicht zur Verfügung stehenden lexikalischen Einheit bzw. Lautstruktur verstanden. Das zur Bestimmung der funktionellen Lokalisation der Ursachen von Wortfindungsstörungen verwendete paradigmatische und syntagmatische Klassifikationsmuster der Benennfehler ist nach HILLERT (1990b) aber nicht überzeugend.
Eine bestimmte Klasse von Antworten als Ergebnis einer Kompensationsstrategie anzusehen [...] und eine andere Klasse als Ausdruck eines [semantischen Defizits], beruht auf der Berücksichtigung bestimmter theoretischer Erwägungen und besitzt keine empirische Grundlage. Entsprechend ist es möglich, gerade umgekehrt zu argumentieren: Syntagmatische oder assoziative Antworten könnten durch eine Auflösung der mit dem Zielnamen verbundenen Konzeptstruktur entstehen, und paradigmatische Antworten spiegeln Merkmale einer intakten Konzeptstruktur des nicht abrufbaren Zielnamens wider.
(HILLERT 1990b:138)
Die paradigmatische Antwort Tisch anstelle von STUHL weist nach HILLERT-
(1990b:139) lediglich auf eine enge Nachbarschaft beider Konzepte, aber nicht notwendigerweise [auf] eine Auflösung einer [semantischen] Merkmalshierarchie hin. Eine naheliegende Wortbedeutung zum Stimulusitem STUHL kann demnach als Kompensationsstrategie eingesetzt werden, weil der geforderte Zugang zur vollständig erhaltenen phonologischen Information von STUHL blockiert ist, während der Zugang zur phonologischen Information von TISCH nicht blockiert ist und somit fehlerfrei abgerufen werden kann.
Dieser Kompensationsmechanismus soll nach der Auffassung einiger Forscher nur für Broca-Aphasiker angenommen werden, wohingegen POECK et al. (1974), GOOD-
GLASS/BAKER (1976) sowie HILLERT (1990a:113) vermuten, daß sogar Wernicke Patienten offensichtlich ausschließlich phonologisch gestört sind. Dies zeigt sich nämlich darin, daß Wernicke-Aphasiker eine besondere Sensibilität für Basiskonzepte, Prototypen und hochfrequente Wörter haben. Selbst unter einer Aphasie sind diese sprachlichen Einheiten überzufällig häufig dem Patienten zugänglich. WEIGL/BIERWISCH (1970) nehmen aufgrund einiger Deblockierungsphänomene sogar für alle vier großen Aphasiesyndrome eine Zugangsstörung an.

Abgesehen von den beiden verwendeten Klassifikationsmustern zur Bestimmung der aphasischen Störungsursache liefert beispielsweise ein von STACHOWIAK (1982) diagnostizierter Aphasiepatient Anzeichen, die es ermöglichen, die in Benennexperimenten ausbleibenden Antwortreaktionen als Zugangsstörung zu interpretieren. Der aphasische Proband zeigte sich zwar unfähig, die dargebotene Abbildung eines Soldaten über einen referentiellen Akt zu vollziehen, produzierte aber die lexikalische Einheit Soldat über einen propositionellen Akt wie Ich war Soldat. Daraus kann gefolgert werden, daß dem Patienten aufgabenspezifisch ein Weg zur geforderten Lautstrukur bereitsteht, während andere Zugänge zur Lautform durch einen ``eingestürzten Tunnel'' blockiert sind. Demgemäß ist bloß der modalitätsspezifische Zugang zu einem ansonst intakten Lexikon gestört [...] (LEUNINGER 1986:225), was sich beim Patienten durch fluktuierende Leistungen bemerkbar macht.gif

So werden fluktuierende Leistungen des Patienten, aber auch das Vorkommen von Wortsubstitutionen, die zum Stimulusitem nicht nur semantische, sondern auch phonologische Ähnlichkeiten aufzeigen, wie Floß anstatt BOOT, als Ausdruck von Problemen beim Zugang zur Lautstruktur gewertet. Doch vor dem Hintergrund, daß sich die in Benennexperimenten diagnostizierten semantischen Paraphasien einerseits als eine Störung des zentralen semantischen Systems, andererseits auch durch eine (modalitätsspezifische) Zugangsstörung interpretieren lassen, kann die über ein Jahrzehnt alte Position von H. Leuninger nicht als überholt betrachtet werden.

Ich möchte mich [...] weder für die eine noch für die andere Position entscheiden, im wesentlichen deshalb, weil ich der Auffassung bin, daß sich aus der mir bekannten Evidenz kein starkes Argument für die eine oder andere Position konstruieren und verteidigen läßt.
(LEUNINGER 1986:225)
Hingegen fällt das Urteil von D. Hillert über die Aussagekraft semantischer Wortsubstitutionen vernichtend aus, denn für ihn liefern semantische Paraphasien
per se [...] weder Evidenz für die Annahme, daß aphasische Patienten lexikalisch-[semantisch] gestört sind, noch vermitteln sie einen detaillierten Einblick in die [semantische] Organisationsstruktur des Lexikons.
(HILLERT 1990b:139)
So eröffnen neurolinguistische Befunde an aphasischen Patienten, die unter semantischen Störungen in einzelnen sensorischen Modalitäten leiden, gegenwärtig einen weiteren wichtigen Themenkomplex für die neurolinguistische Semantik-Forschung. Ihr Interesse liegt vordergründig in der Beantwortung der Frage, ob multiple semantic representation systems [...], zum Beispiel eines für visuell-semantische und ein anderes für verbal-semantische Repräsentationen zu postulieren sind (BLANKEN 1991:16). Der folgende Abschnitt beschäftigt sich eingehender mit modalitätsspezifischen Störungsformen, die bei sprachgestörten Menschen aber nur selten auftreten.


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Sun Jan 30 19:15:22 MET 2000