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Situativ-referentielle Paraphasien
VOGELS (1978) bewertet in seinem Benennexperiment
aphasische Fehlleistungen als situativ-referentielle Paraphasien, die laut
HUBER et al. (1975:88)
sich aus den biographischen und situativen Erfahrungen
einzelner Sprecher ergeben und folglich zum Stimuluswort in einer situativ-referentiellen
Relation stehen. Die Beispiele aus der Tabelle in Abbildung 21 geben einen
Einblick in die drei von P. Vogels klassifizierten semantischen Beziehungen
zwischen Zielwort und Paraphasie, die als ``Aktion'', ``Eigenschaft'' und
``Situation'' bezeichnet werden.
Abbildung 21: Situativ-referentielle Paraphasien in Benennungsaufgaben
Bezüglich der Klassifikation von VOGELS (1978) stellt STACHOWIAK
(1979) die entscheidende Frage:
[...] und sind situativ-referentielle Relationen tatsächlich
ebenso lexikalisch-semantische Relationen wie die klassifikatorischen,
was in der Arbeit von Vogels durchgehend impliziert zu sein scheint?
(STACHOWIAK 1979:64)
Auffällig ist nämlich, daß P. Vogels nur einzelne Wörter
in seiner Studie betrachtet, d.h. wenn ein aphasischer Patient zu einem
Stimuluswort wie NUSSKNACKER als Reaktion eine ganze Beschreibung wie Dies
ist ein Ding zum Nüsse knacken produzierte, wurde nicht die geäußerte
Phrase gewertet, sondern nur das für den Untersucher prägnante
Wort, wie in diesem Beispiel das ``etikettierende Lexem'' Nüsse.
Feststeht aber, daß Beschreibungen, die von aphasischen Patienten
anstelle von Benennungen gegeben werden, [...] einen eigenen Status haben
(STACHOWIAK 1979:64). Eine bei Wortfindungsstörungen somit typische
Ersatzstrategie ist das Umschreiben bzw. Periphrasieren
des intendierten Stimulusitems, so daß aus plausiblen oder wie STACHOWIAK
(1979:81) konstatiert,
aus operationalen Gründen im folgenden
nicht mehr von situativ-referentiellen Wortsubstitutionen die Rede sein
kann. Die von Aphasikern produzierten situativ-referentiellen Fehlleistungen
werden über den Terminus ``deskriptive Reaktionen'' eindeutiger zum
Ausdruck gebracht und schließlich als Beschreibungsversuche verstanden.
Selbst bei tatsächlich produzierter Einwortäußerung Nüsse
sieht STACHOWIAK (1979) diese Fehlleistung nicht als Paraphasie an, sondern
bezeichnet diese Einwortreaktion als ``Kurzexplikation'', die eine Form
des beschreibenden Verhaltens ausdrückt. Die deskriptiven Reaktionen
können somit auch aus Einzelwörtern bestehen, die sich aus syntagmatischen
und assoziativen Antworten zusammensetzen. HILLERT (1990a, 1990b) bezeichnet
die Beschreibungsversuche als konzeptuelle Antwortmuster, die nach syntagmatischen
Relationen klassifiziert sind. Eine aphasische Antwortreaktion ist demnach
als syntagmatisch zu etikettieren, wenn eine aphasische Benennreaktion
ausschließlich einen Bedeutungsaspekt des Stimuluswortes ausdrückt.
Der aphasische Beschreibungsversuch gelb auf das Stimuluswort
Banane
zum Beispiel spiegelt die syntagmatische Relation wider. Zum größeren
Teil bestehen deskriptive Reaktionen letztendlich jedoch
aus Phrasen
und Sätzen, mit deren Hilfe beliebige Aspekte des Referenten (STACHOWIAK
1979:82), z.B. seine ``Aktion'', ``Eigenschaft'' oder ``Situation'' beschrieben
werden. Die Tabelle in Abbildung 22 liefert einen Einblick in deskriptive
Reaktionen von Aphasikern, wobei deren Antworten mit der gelegentlichen
Wortsuche sprachgesunder Menschen vergleichbar sind.
Abbildung 22: Deskriptive Reaktionen in Benennungsaufgaben
PEUSER (1978:16f.) zitiert eine humoreske Szene aus dem Stück ``Großfeuer''
von Karl Valentin, um zu zeigen, wie der sprachgesunde Kommandant die unerträgliche
Lücke bzw.
okkasionelle Wortfindungsstörung ausfüllt.
Kommandant: Au, au, Wiggerl, geh runter, du stehst auf dem
Ding droben.
Wiggerl: Auf der Leiter?
Kommandant: Na, auf meiner - mir fallt der Name nie ein, au, au,
auf meiner Pratzen.
Wiggerl: Jessas, des hab i net g'wußt.
(PEUSER 1978:16)
Das Ersatzwort Ding erweist sich sowohl für sprachgesunde als
auch für sprachgestörte Probanden als ein beliebtes Füllwort,
wie die Fehlbenennungen
zum Essen, ein Ding auf das Stimulusitem BANANE und
Frau mit
Ding, [...] auf das Stimulusitem SPINNE demonstrieren.
Darüber hinaus hoffen sprachgesunde Sprecher im Gespräch
häufig durch das Einlegen von Pausen oder durch entschuldigende Erklärungen
bzw. Kommentare auf einen hilfreichen Einwurf des Kommunikationspartners.
Hier zeigt sich, daß der sozial-kommunikative Kontext oder die aktuelle
Situation die Satzäußerung beeinflußt. In die aphasische
Wortsuche sind ebenfalls Kommentare wie weiß schon was das ist
oder Fragen wie oder wie sagt man da? und
wie heißt das?
eingestreut und in Benennexperimenten reichlich zu beobachten.
Bezüglich der Benennungsaufgaben, in denen kein Kommunikationspartner,
sondern Stimuluswörter den Bezugsrahmen bilden, verfolgt STACHOWIAK
(1979) die Frage, inwieweit Stimulusitems auf das aphasische Antwortmuster
einwirken. Auf der Grundlage des universalen Aspektes versucht er folgende
Hypothese anhand eines Benennexperiments an aphasischen Probanden nachzuweisen.
Wenn deskriptive Wörter tatsächlich eine Prädikation
beinhalten, dann müßte dies bei den Prozessen, die zur Produktion
dieses Wortes führen, eine Rolle spielen, und es wäre zu erwarten,
daß stark deskriptive Wörter zu deskriptiven Arten von Reaktionen
führen, in dem Sinne, daß der Anteil der beschreibenden Phrasen
zunimmt [...].
(STACHOWIAK 1979:67)
Als Stimuluswörter dienten vier verschiedende Wortarten, die unterschiedlich
linguistisch strukturiert sind bzw. einen unterschiedlich deskriptiven
semantischen Gehalt einnehmen. So bestand eine Wortgruppe ausschließlich
aus stark deskriptiven Stimuluswörtern, wie es beispielsweise die
Komposita Scheibenwischer oder
Wagenheber sind. Hier sollten
Aphasiepatienten verstärkt deskriptive Antwortreaktionen in Form von
Phrasen oder Sätzen produzieren. Neben weiteren opaken Komposita wie
Heuschrecke und deskriptiven Wörtern mit derivativem Zusammenhang
zu einem Verb wie
Boxer
bildeten einfache Nomina wie
Eimer die Kontrollgruppe, da diese
aufgrund ihrer Wortstruktur nichts über ihre Bedeutung aussagen
(STACHOWIAK 1979:64) und somit aphasische Einwortreaktionen wie Kurzexplikationen
oder semantisch-klassifikatorische Paraphasien überzufällig häufig
hervorrufen müßten. Aus der Tabelle in Abbildung 22 ist ersichtlich,
daß das aphasische Antwortmuster die von F.J. Stachowiak aufgestellte
Hypothese bestätigt. Die linguistische Struktur des Zielitems ist
demnach als Auslöser für deskriptive Reaktionen verantwortlich,
d.h. deskriptive Stimuluswörter führen zu Beschreibungsversuchen,
während nicht-deskriptive Items Benennversuche auslösen. Aphasische
Patienten erbrachten bei den einfachen etikettierenden Lexemen den höchsten
Anteil an korrekten Benennungen. Bei auftretenden Fehlbenennungen beobachtete
F.J. Stachowiak jedoch überzufällig häufig Wortsubstitutionen,
die zum einfachen Stimuluswort in einer semantisch-klassifikatorischen
Beziehung standen. Kurzexplikationen und deskriptive Antwortreaktionen
wurden bei geforderten einfachen Stimuluswörtern selten von Aphasiepatienten
produziert. Daß einfache Stimuluswörter bei Aphasikern aber
nicht ausschließlich zu semantisch-klassifikatorischen Paraphasien
führen, zeigen die von EVERS-VOLPP (1988) diagnostizierten aphasischen
Patienten anschaulich. Wie aus der Tabelle in Abbildung 23 zu entnehmen
ist, sind bei intendierten einfachen Stimuluswörtern auch funktionale,
charakterisierende sowie situativ-referentielle Umschreibungen zu verzeichnen.
Abbildung 23: Einfache Stimuluswörter und ihre aphasischen
Umschreibungen
Hinsichtlich der vier klassischen Syndromgruppen werden die beiden Beschreibungsversuche
unterschiedlich gebraucht. Während Wernicke- und amnestische Aphasiker
überwiegend deskriptive Reaktionen in Form von Phrasen und Sätzen
produzieren, neigen Broca- sowie globale Aphasiker im überwiegenden
Maße zu Kurzexplikationen in Benennungsaufgaben. Hinsichtlich ihrer
generellen nicht-flüssigen Sprachproduktion ist es aber nur verständlich,
daß diese Aphasiepatienten bedeutend mehr Kurzexplikationen produzieren
als flüssig-sprechende Aphasiker.
Der hohe Anteil von Aktions- bzw. Funktionsangaben (meist
Verben) in diesen beiden Patientengruppen legt es nahe, diese Reaktionen
als Kurzexplikationen anzusehen, die mit den längeren Umschreibungen
auf einer Ebene stehen, ja sogar mißlungene Versuche solcher längeren
Umschreibungen darstellen.
(STACHOWIAK 1979:80)
Bei der Verteilung von Antwortversuchen durch Beschreiben und Benennen
läßt sich bezüglich der Syndromgruppen kein prägnanter
Unterschied feststellen. Allerdings bestehen die semantischen Fehlleistungen
im überwiegenden Maße, nämlich zu 60 Prozent, aus klassifikatorischen
Paraphasien, während die semantischen Fehlleistungen, die zum Zielwort
in referentieller Beziehung stehen, nur insgesamt 24 Prozent ausmachen.
Die restlichen 16 Prozent werden als sonstige aphasische Fehlleistungen
zusammengefaßt.
Die Klassifizierung der aphasischen Fehlleistungen liefert Forschern
Hinweise über ihre mögliche funktionelle Störungsursache
und wird im folgenden diskutiert.



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Sun Jan 30 19:15:22 MET 2000