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Neurophysiologische Aspekte

Nervensysteme führen eine unglaubliche Vielzahl von Aufgaben gleichzeitig und mit solch einer überlegenen Einheitlichkeit aus, daß man an die Existenz einer intelligenten Seele glauben könnte, die das Ganze als Einheit steuert.
(CHURCHLAND/SEJNOWSKI 1997:411)
Nach naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten gibt es aber keine intelligent handelnde Seele, die das zentrale Nervensystem unterhalb der Schädeldecke von Mensch und Tier dirigiert, jedoch zeigen Untersuchungen, die zumeist an Tieren durchgeführt werden, andere faszinierende Befunde. Das Zentralnervensystem besteht aus etwa hundert Milliarden Nervenzellen (= Neuronen), die völlig unabhängig voneinander, einzig über bestimmte Kontaktstellen, die Synapsen, ein komplexes Netzwerk bilden. Dieses komplexe Netzwerk wird von der Neurophysiologie, einem klassischen Forschungszweig innerhalb der Neurobiologie, untersucht. Deren Methodik erforscht zunächst die Grundfunktionen dieser Nervenzellen, um anschließend ihr Zusammenwirken zu studieren. Denn offensichtlich, wie SCHWARZ (19962:68) treffend formuliert, ist das Gehirn funktionell, nur aus der Zusammenarbeit seiner grundlegenden Einheiten zu verstehen. Daher sollen die neurophysiologischen Aspekte kognitiver Prozesse anhand dieser Methode bearbeitet werden.

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Abbildung 6: Neuron bestehend aus den verästelten Dendriten mit gekoppelten Synapsen,einem Zellkern und einer Nervenfaser (Axon) (Quelle: STEVENS 19889:5)

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Abbildung 7: Nervenfaser (Axon) mit Endknöpfchen und synaptischem Spalt zu den Dendriten eines anderen Neurons (Quelle: STEVENS 19889:5)

Jede Nervenzelle besteht aus einem Zellkern (Soma), einer langen Nervenfaser (Axon) und vielen kurzen Fortsätzen, den Dendriten (s. Abb. 6). Die Besonderheit jeder einzelnen Nervenzelle ist ihr elektrochemisches Verhalten (vgl. STEVENS 19889). Seit etwa vierzig Jahren ist bekannt, daß die Zellmembran die Fähigkeit besitzt, Nervensignale zu erzeugen. Diese sogenannten Aktionspotentiale sind elektrischer Natur und werden von den Dendriten mit ihren vielfach verästelten Fortsätzen zum Zellkörper hin geleitet (afferent). Längs des Axons hingegen pflanzt sich das elektrische Signal vom Zellkörper fort (efferent). Demnach sind die Dendriten spezielle ``Eingangs-'' Strukturen und das Axon ist der ``Ausgang'' der Nervenzelle. Da das Axon unmittelbar vor einer anderen Zelle endet

- tatsächlich war dort eine kleine Lücke, wie ein Niemandsland zwischen zwei unabhängig voneinander errichteten Grenzzäunen benachbarter Staaten  -
(CALVIN/OJEMANN 1995:113)
muß das elektrische Signal diese ``Lücke'' auf chemische Weise überbrücken.
Ende des 19. Jahrhunderts gab der Neurophysiologe Charles Sherrington der Stelle, an der zwei Nervenzellen nahezu miteinander in Kontakt treten, den Namen Synapse. Synapsen stellen spezialisierte Kommunikationsorte dar (vgl. POPPER/ECCLES 19965) und eine Nervenzelle weist durchschnittlich eintausend solcher Orte auf. Sie sind der Grenzübergang, wo der Axon-Ausgang des einen Neurons zum Eingang des Dendriten oder des Zellkörpers eines anderen Neurons wird. An der Synapse dehnt sich die Nervenfaser aus und bildet ein Endknöpfchen. Dieses Endknöpfchen ist mit kleinen Bläschen, den synaptischen Vesikeln, gefüllt, die eine Überträgersubstanz (Neurotransmitter) speichern. Erreicht das fortgeleitete Aktionspotential das Endknöpfchen, öffnen sich einige Vesikel und Neurotransmitter-Moleküle diffundieren durch den synaptischen Spalt, der etwa 0,2 millionstel Millimeter breit ist, in den angrenzenden Dendriten und werden dort in sogenannten Empfängerstellen (Rezeptoren) in der postsynaptischen Membran gebunden (s. Abb. 7). Dabei erscheint es,
als würde man ein Parfumfläschchen an dem einen Grenzzaun öffnen und die Duftmoleküle über das Niemandsland hinübertreiben lassen zum anderen Grenzzaun.
(CALVIN/OJEMANN 1995:114)
Aber nur mit Hilfe dieser ``Duftmoleküle'', bei denen es sich um die Neurotransmitter handelt, kann das Aktionspotential von einer Nervenzelle zur nächsten weitergeleitet werden.
Es gibt zwei Arten von Neuronen im Gehirn, einerseits die Pyramidenzellen, deren Axone ausschließlich erregende (exzitatorische) Synapsen bilden und andererseits die Sternzellen oder Interneuronen, die nur hemmende (inhibitorische) Synapsen schaffen. Die eigentliche kortikale Informationsverarbeitung erfolgt durch diese beiden Typen von Neuronen, wobei die Synapsen der Pyramidenzellen beispielsweise den Neurotransmitterstoff Glutamat tragen. Bevor aber eine Nervenzelle ``feuert'' und das Aktionspotential längs des Axons läuft, muß die Erregung der im Ruhepotential befindlichen Zelle kurzfristig einen bestimmten Schwellenwert erreichen. Nach Abgabe eines Aktionspotentials ist das Neuron dann eine kurze Zeitspanne von etwa 1-2 ms absolut unerregbar, danach schwerer erregbar als im Normalzustand. Diese sogenannte absolute und relative Refraktärphase könnte neben der Funktion einer Ruhepause für die Zelle auch eine Bedeutung für die Funktion der Informationsverarbeitung haben. Dieses Phänomen bleibt von den Neurophysiologen zu klären. So scheint die Elektrizität der Träger der Information zu sein, die mit biochemischen Mitteln gesteuert wird. Die Neurobiologen glauben, sehr vieles über die Details gerade auf der Ebene der Einzelzelle und deren Informationsträger zu wissen. Aber auch unter ihnen gibt es Forscher, die anmerken, es bestehe noch nicht einmal Klarheit darüber, welches überhaupt der ``neuronale Code'' sei. Bei dem ``neuronalen Code'' handelt es sich um die Sprache, in der sich die Neuronen Informationen mitteilen.
Sind es wirklich die Aktionspotentiale (``Spikes'')? Wenn ja, ist der Code ihre mittlere Entladungsrate, das zeitliche Muster einer Salve von Aktionspotentialen oder das Auftreten des ersten Spikes? Oder kommt es allein auf die chemischen Botenstoffe an, die Neurotransmitter oder Neuropeptide? Welche Rolle spielen überhaupt die Gliazellen, die etwa im menschlichen Gehirn viel zahlreicher vorhanden sind als die Nervenzellen? Sind sie vielleicht die eigentlichen Träger der Information, etwa beim Gedächtnis?
(ROTH 19964:16)
Unter den Forschern herrscht aber Einigkeit darüber, daß die Grundlage von Lernen und Gedächtnis(-speicherung), sowohl sprachlicher als auch außersprachlicher Natur, auf Veränderungen bzw. Aktivität von Neuronen beruht. Der Neuroanatom Ramon y Cajal hat schon 1911 auf die Besonderheit der Synapsen hingewiesen. Diese sollen für die Gedächtnisbahnung verantwortlich sein. Synapsen sind für die Funktionsweise des Gehirns besonders wichtig, denn sie leiten nicht nur die Informationen an die anschließenden Neuronen weiter, sondern können auf die Information exzitatorisch oder inhibitorisch einwirken. Anders als in den restlichen Gebieten im Gehirn sitzen die Synapsen im Kortex auf sogenannten Dornen. Für BRAITENBERG/SCHÜZ (1989:191) spricht einiges dafür, daß die im Kortex befindlichen synaptischen Dornen dafür verantwortlich sind, daß der Kortex ein großer Gedächtnisspeicher, fast nur Gedächtnis ist. Denn die auf den Dornen sitzenden Synapsen sind in der Lage, ihre Stärke zu modifizieren. Die exzitatorisch wirkenden Synapsen beispielsweise verfügen über die Fähigkeit, zwei oder mehrere Neuronen, vorausgesetzt sie sind gleichzeitig aktiv, verstärkt aneinander zu koppeln. Schließlich können aus häufig gleichzeitig stark erregten Neuronen konsolidierte Neuronengruppen entstehen. Wenn eine genügend große Anzahl von Neuronen aus einer Neuronengruppe aktiv ist, können diese Neuronen den gesamten Neuronenkomplex aktivieren. Dabei müssen die Neuronen nicht unbedingt nahe beieinander liegen, sondern können auch weit entfernt voneinander über beide Hemisphären verteilt sein. Diese Neuronenverbände nennt man auch Hebbsche Neuronenverbände (Cell Assemblies), bzw. transkortikale Assemblies, wenn stark gekoppelte Neuronennetze über mehrere kortikale Areale oder über beide Hemisphären verteilt sind. Nach dem Modell des Neuropsychologen Donald O. Hebb (1949) sind solche Cell Assemblies die kortikalen Repräsentanten von Gegenständen, Begriffen, Gedanken und Wörtern. In seinem 1949 veröffentlichen Buch The Organization of Behavior postuliert Hebb die Theorie, eine Entsprechung von psychologischen Einheiten und Cell Assemblies existiere. Nach HEBB (1949) soll das Gehirn als ein Ensemble von Neuronen assoziatives Gedächtnis durch Veränderungen synaptischer Verbindungen schaffen. Eine ``Zündung''gif einer bestimmten Cell Assembly soll mit dem Auftreten von bestimmten psychologischen Vorgängen eines Typs stark korrelieren.

PULVERMÜLLER (1996) beispielsweise baut sein biologisches Sprachmodell auf das Hebbsche Konzept der Cell Assemblies auf.gif Er will die Cell-Assembly-Theorie für die neurologisch-linguistische Theoriebildung fruchtbar machen. Untersuchungen am Hörsystem von Primaten weisen nämlich darauf hin, daß die Aktivität von Neuronen des auditorischen Kortex mit dem Auftreten verschiedener Merkmale von Phonemen, mit phonetischen Distinctive Features korreliert. So antworten bestimmte Neuronen auf akustische Sprachreize, wie beispielsweise auf Stimmhaftigkeit/Stimmlosigkeit.gif Die sprachlichen Einheiten, die in der Hierarchie über den phonetischen Merkmalen stehen, sind die Phoneme. Ihr neuronales Korrelat könnte aus kleinen ``Distinctive-Feature''-Neuronenverbänden bestehen. Die Silben, Morpheme und Wörter, die in dieser Reihenfolge in der sprachlichen Hierarchie über den Phonemen stehen, könnten demnach ihr neuronales Korrelat in größeren Cell Assemblies finden.

Will man solche neurologisch-linguistischen Spekulationen weiterverfolgen, so wäre prinzipiell für jedes linguistische Strukturelement eine korrespondierende Assembly anzunehmen. Das System struktureller linguistischer Einheiten hätte sozusagen ein postuliertes neuronales Abbild, in dem sich die Hierarchien des linguistischen Systems wiederfinden.
(PULVERMÜLLER 1992:29)
DAMASIO/DAMASIO (1994) setzen für die Sprachverarbeitung im Gehirn ein dreiteiliges System an. Sie sind davon überzeugt, daß das Gehirn die Sprache mittels dreier wechselwirkender Gruppen von Strukturen verarbeitet (DAMASIO/DAMASIO 1994:58).
Die erste Gruppe besteht aus einer großen Neuronenpopulation, die Neuronen sowohl aus der rechten als auch aus der linken Hemisphäre beinhaltet. Diese neuronalen Strukturen dienen der Darstellung von gedanklichen Konzepten und sind somit nicht-sprachlicher Natur. Sensorische, motorische oder gustatorische Stimuli schaffen Cell Assemblies, die das Gehirn nach Kategorien ordnet (wie Farbe, Gestalt oder Geschmack). Unter der ersten Gruppe existiert eine Repräsentationsebene für die Ergebnisse dieser Klassifikation. Auf dieser Begriffsebene sind die Objekte und deren Beziehungen untereinander, aber auch die persönlichen und fremden Ereignisse organisiert.
Die zweite Gruppe besteht aus einer kleineren Anzahl von neuronalen Strukturen, die vorwiegend in der linken Hemisphäre lokalisiert sind. Diese Cell Assemblies repräsentieren Phoneme, Silben, Morpheme oder syntaktische Regeln für das Kombinieren von Wörtern (vgl. PULVERMÜLLER 1996). Dieses System stellt die Wortformen bei der Wortproduktion bereit und führt die ersten Sprachverarbeitungsschritte bei der Sprachrezeption aus.
Die dritte Gruppe ist eine bedeutende Instanz, die zwischen den beiden anderen Gruppen vermittelt. Ihre neuronalen Strukturen sind ebenfalls vorwiegend in der linken Hemisphäre lokalisiert. Einerseits kann diese Gruppe Konzepte aufnehmen und die entsprechenden Wortformen aktivieren, andererseits aber auch Wörter empfangen und andere Gehirnareale veranlassen, die dazugehörigen Konzepte zu aktivieren. Solche lexikalischen Vermittlungsstrukturen (= Mediationsstrukturen) werden aus psycholinguistischen Gründen im Gehirn angenommen. Der Linguist W.J.M. Levelt zeigt in seinem psycholinguistischen Modell der Wortverarbeitung, daß die Wortformen aus Konzepten über eine Zwischenkomponente gebildet werden. Diese Komponente wird als ``Lemma'' bezeichnet.gif

MOUNTCASTLE (1978) kommt aufgrund neuroanatomischer und neurophysiologischer Untersuchungen zu dem Schluß, daß sich annähernd alle Neuronen im Kortex zu hochspezialisierten, funktionell ähnlich aufgebauten Modulen gruppieren. Er nennt sie Basismodule, bzw. ``Unit''-Module. Diese Module wurden durch die Einführung einer Mikroelektrode senkrecht zur Kortexoberfläche entdeckt. Die Neuronen, die unmittelbar um diese Elektrode liegen, reagieren alle maximal auf dasselbe Reizmaterial. Weicht die Elektrode aber um wenige Mikrometer von der Senkrechten ab, verändert sich die Reaktion auf das spezielle Stimulusitem. Diese und andere Untersuchungen deuten stark darauf hin, daß die Neuronen, zumindest sofern sie auf höhere kognitive Leistungen reagieren und auf die Verarbeitung derselben Stimuli spezialisiert sind, im Kortex säulenartig angeordnet sind (vgl. BRAITENBERG/SCHÜZ 1989). Man kann somit die einzelnen Basismodule, die vertikal über sechs Schichten stark synaptisch verschaltet sind, als die Grundbausteine der kognitiven Funktionen des Gehirns ansehen. Diese säulenartigen Module bestehen aus etwa hundert Neuronen und sind redundant im Gehirn angelegt. Kommt es zur Läsion eines Moduls, können andere Basismodule die Funktion des gestörten Moduls übernehmen. Die volle Leistungsfähigkeit kann aber nicht mehr erreicht werden. Denn nur das Zusammenspiel aller Module garantiert die intakte Informationsverarbeitung im Gehirn. Die Vorstellung, es gebe klar erkennbare Basismodule, die im Kortex strukturiert dicht nebeneinander liegen, führt aber zu einer falschen Ansicht. Das Nervensystem scheint eher ein dichtgepacktes Gebilde, eher ein undurchdringlicher blockhafter Filz (KOCHENDÖRFER 1997:55) zu sein.


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Sun Jan 30 19:15:22 MET 2000