Nervensysteme führen eine unglaubliche Vielzahl von Aufgaben gleichzeitig und mit solch einer überlegenen Einheitlichkeit aus, daß man an die Existenz einer intelligenten Seele glauben könnte, die das Ganze als Einheit steuert.Nach naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten gibt es aber keine intelligent handelnde Seele, die das zentrale Nervensystem unterhalb der Schädeldecke von Mensch und Tier dirigiert, jedoch zeigen Untersuchungen, die zumeist an Tieren durchgeführt werden, andere faszinierende Befunde. Das Zentralnervensystem besteht aus etwa hundert Milliarden Nervenzellen (= Neuronen), die völlig unabhängig voneinander, einzig über bestimmte Kontaktstellen, die Synapsen, ein komplexes Netzwerk bilden. Dieses komplexe Netzwerk wird von der Neurophysiologie, einem klassischen Forschungszweig innerhalb der Neurobiologie, untersucht. Deren Methodik erforscht zunächst die Grundfunktionen dieser Nervenzellen, um anschließend ihr Zusammenwirken zu studieren. Denn offensichtlich, wie SCHWARZ (:68) treffend formuliert, ist das Gehirn funktionell, nur aus der Zusammenarbeit seiner grundlegenden Einheiten zu verstehen. Daher sollen die neurophysiologischen Aspekte kognitiver Prozesse anhand dieser Methode bearbeitet werden.
(CHURCHLAND/SEJNOWSKI 1997:411)
Abbildung 6: Neuron bestehend aus den verästelten Dendriten
mit gekoppelten Synapsen,einem Zellkern und einer Nervenfaser (Axon) (Quelle:
STEVENS :5)
Abbildung 7: Nervenfaser (Axon) mit Endknöpfchen und synaptischem
Spalt zu den Dendriten eines anderen Neurons (Quelle: STEVENS :5)
Jede Nervenzelle besteht aus einem Zellkern (Soma), einer langen Nervenfaser (Axon) und vielen kurzen Fortsätzen, den Dendriten (s. Abb. 6). Die Besonderheit jeder einzelnen Nervenzelle ist ihr elektrochemisches Verhalten (vgl. STEVENS ). Seit etwa vierzig Jahren ist bekannt, daß die Zellmembran die Fähigkeit besitzt, Nervensignale zu erzeugen. Diese sogenannten Aktionspotentiale sind elektrischer Natur und werden von den Dendriten mit ihren vielfach verästelten Fortsätzen zum Zellkörper hin geleitet (afferent). Längs des Axons hingegen pflanzt sich das elektrische Signal vom Zellkörper fort (efferent). Demnach sind die Dendriten spezielle ``Eingangs-'' Strukturen und das Axon ist der ``Ausgang'' der Nervenzelle. Da das Axon unmittelbar vor einer anderen Zelle endet
- tatsächlich war dort eine kleine Lücke, wie ein Niemandsland zwischen zwei unabhängig voneinander errichteten Grenzzäunen benachbarter Staaten -muß das elektrische Signal diese ``Lücke'' auf chemische Weise überbrücken.
(CALVIN/OJEMANN 1995:113)
als würde man ein Parfumfläschchen an dem einen Grenzzaun öffnen und die Duftmoleküle über das Niemandsland hinübertreiben lassen zum anderen Grenzzaun.Aber nur mit Hilfe dieser ``Duftmoleküle'', bei denen es sich um die Neurotransmitter handelt, kann das Aktionspotential von einer Nervenzelle zur nächsten weitergeleitet werden.
(CALVIN/OJEMANN 1995:114)
Sind es wirklich die Aktionspotentiale (``Spikes'')? Wenn ja, ist der Code ihre mittlere Entladungsrate, das zeitliche Muster einer Salve von Aktionspotentialen oder das Auftreten des ersten Spikes? Oder kommt es allein auf die chemischen Botenstoffe an, die Neurotransmitter oder Neuropeptide? Welche Rolle spielen überhaupt die Gliazellen, die etwa im menschlichen Gehirn viel zahlreicher vorhanden sind als die Nervenzellen? Sind sie vielleicht die eigentlichen Träger der Information, etwa beim Gedächtnis?Unter den Forschern herrscht aber Einigkeit darüber, daß die Grundlage von Lernen und Gedächtnis(-speicherung), sowohl sprachlicher als auch außersprachlicher Natur, auf Veränderungen bzw. Aktivität von Neuronen beruht. Der Neuroanatom Ramon y Cajal hat schon 1911 auf die Besonderheit der Synapsen hingewiesen. Diese sollen für die Gedächtnisbahnung verantwortlich sein. Synapsen sind für die Funktionsweise des Gehirns besonders wichtig, denn sie leiten nicht nur die Informationen an die anschließenden Neuronen weiter, sondern können auf die Information exzitatorisch oder inhibitorisch einwirken. Anders als in den restlichen Gebieten im Gehirn sitzen die Synapsen im Kortex auf sogenannten Dornen. Für BRAITENBERG/SCHÜZ (1989:191) spricht einiges dafür, daß die im Kortex befindlichen synaptischen Dornen dafür verantwortlich sind, daß der Kortex ein großer Gedächtnisspeicher, fast nur Gedächtnis ist. Denn die auf den Dornen sitzenden Synapsen sind in der Lage, ihre Stärke zu modifizieren. Die exzitatorisch wirkenden Synapsen beispielsweise verfügen über die Fähigkeit, zwei oder mehrere Neuronen, vorausgesetzt sie sind gleichzeitig aktiv, verstärkt aneinander zu koppeln. Schließlich können aus häufig gleichzeitig stark erregten Neuronen konsolidierte Neuronengruppen entstehen. Wenn eine genügend große Anzahl von Neuronen aus einer Neuronengruppe aktiv ist, können diese Neuronen den gesamten Neuronenkomplex aktivieren. Dabei müssen die Neuronen nicht unbedingt nahe beieinander liegen, sondern können auch weit entfernt voneinander über beide Hemisphären verteilt sein. Diese Neuronenverbände nennt man auch Hebbsche Neuronenverbände (Cell Assemblies), bzw. transkortikale Assemblies, wenn stark gekoppelte Neuronennetze über mehrere kortikale Areale oder über beide Hemisphären verteilt sind. Nach dem Modell des Neuropsychologen Donald O. Hebb (1949) sind solche Cell Assemblies die kortikalen Repräsentanten von Gegenständen, Begriffen, Gedanken und Wörtern. In seinem 1949 veröffentlichen Buch The Organization of Behavior postuliert Hebb die Theorie, eine Entsprechung von psychologischen Einheiten und Cell Assemblies existiere. Nach HEBB (1949) soll das Gehirn als ein Ensemble von Neuronen assoziatives Gedächtnis durch Veränderungen synaptischer Verbindungen schaffen. Eine ``Zündung'' einer bestimmten Cell Assembly soll mit dem Auftreten von bestimmten psychologischen Vorgängen eines Typs stark korrelieren.
(ROTH :16)
PULVERMÜLLER (1996) beispielsweise baut sein biologisches Sprachmodell auf das Hebbsche Konzept der Cell Assemblies auf. Er will die Cell-Assembly-Theorie für die neurologisch-linguistische Theoriebildung fruchtbar machen. Untersuchungen am Hörsystem von Primaten weisen nämlich darauf hin, daß die Aktivität von Neuronen des auditorischen Kortex mit dem Auftreten verschiedener Merkmale von Phonemen, mit phonetischen Distinctive Features korreliert. So antworten bestimmte Neuronen auf akustische Sprachreize, wie beispielsweise auf Stimmhaftigkeit/Stimmlosigkeit. Die sprachlichen Einheiten, die in der Hierarchie über den phonetischen Merkmalen stehen, sind die Phoneme. Ihr neuronales Korrelat könnte aus kleinen ``Distinctive-Feature''-Neuronenverbänden bestehen. Die Silben, Morpheme und Wörter, die in dieser Reihenfolge in der sprachlichen Hierarchie über den Phonemen stehen, könnten demnach ihr neuronales Korrelat in größeren Cell Assemblies finden.
Will man solche neurologisch-linguistischen Spekulationen weiterverfolgen, so wäre prinzipiell für jedes linguistische Strukturelement eine korrespondierende Assembly anzunehmen. Das System struktureller linguistischer Einheiten hätte sozusagen ein postuliertes neuronales Abbild, in dem sich die Hierarchien des linguistischen Systems wiederfinden.DAMASIO/DAMASIO (1994) setzen für die Sprachverarbeitung im Gehirn ein dreiteiliges System an. Sie sind davon überzeugt, daß das Gehirn die Sprache mittels dreier wechselwirkender Gruppen von Strukturen verarbeitet (DAMASIO/DAMASIO 1994:58).
(PULVERMÜLLER 1992:29)
MOUNTCASTLE (1978) kommt aufgrund neuroanatomischer und neurophysiologischer Untersuchungen zu dem Schluß, daß sich annähernd alle Neuronen im Kortex zu hochspezialisierten, funktionell ähnlich aufgebauten Modulen gruppieren. Er nennt sie Basismodule, bzw. ``Unit''-Module. Diese Module wurden durch die Einführung einer Mikroelektrode senkrecht zur Kortexoberfläche entdeckt. Die Neuronen, die unmittelbar um diese Elektrode liegen, reagieren alle maximal auf dasselbe Reizmaterial. Weicht die Elektrode aber um wenige Mikrometer von der Senkrechten ab, verändert sich die Reaktion auf das spezielle Stimulusitem. Diese und andere Untersuchungen deuten stark darauf hin, daß die Neuronen, zumindest sofern sie auf höhere kognitive Leistungen reagieren und auf die Verarbeitung derselben Stimuli spezialisiert sind, im Kortex säulenartig angeordnet sind (vgl. BRAITENBERG/SCHÜZ 1989). Man kann somit die einzelnen Basismodule, die vertikal über sechs Schichten stark synaptisch verschaltet sind, als die Grundbausteine der kognitiven Funktionen des Gehirns ansehen. Diese säulenartigen Module bestehen aus etwa hundert Neuronen und sind redundant im Gehirn angelegt. Kommt es zur Läsion eines Moduls, können andere Basismodule die Funktion des gestörten Moduls übernehmen. Die volle Leistungsfähigkeit kann aber nicht mehr erreicht werden. Denn nur das Zusammenspiel aller Module garantiert die intakte Informationsverarbeitung im Gehirn. Die Vorstellung, es gebe klar erkennbare Basismodule, die im Kortex strukturiert dicht nebeneinander liegen, führt aber zu einer falschen Ansicht. Das Nervensystem scheint eher ein dichtgepacktes Gebilde, eher ein undurchdringlicher blockhafter Filz (KOCHENDÖRFER 1997:55) zu sein.