Abbildung 5: Die inneren Strukturen eines menschlichen Gehirns.
(Quelle: nach NAUTA/FEIRTAG :94)
Die entscheidenden Bereiche des Wirbeltiergehirns sind in der Evolution gleichzeitig entstanden. ROTH (:184) betont in seinen Ausführungen, daß es keine stammesgeschichtlich ursprünglichen oder stammesgeschichtlich neuen Hirnregionen gibt. Die verschiedenen Hirnteile und die Großhirnrinde haben allerdings in den unterschiedlichen Wirbeltiergruppen ein sehr unterschiedliches anatomisches Schicksal erfahren, sind etwa groß oder klein geworden, komplex oder vereinfacht (ROTH :184). Auch zeigen neuroanatomische und physiologische Untersuchungen, daß die einzelnen Hirnteile aufs engste miteinander verbunden sind. Sowohl das Rückenmark als auch die zur Hirnbasis zählenden Strukturen des Mittel-, Hinter- und des Nachhirns mit seinem verlängerten Rückenmark steuern die vegetativen (von lt. vegetatus - munter, belebt) Funktionen des Körpers wie beispielsweise Atmung, Blutdruck und Verdauung. Das Kleinhirn und die Basalganglien, welche das Hinterhirn kennzeichnen, koordinieren und regulieren gemeinsam sämtliche Bewegungen des menschlichen Körpers. Im Hirninnern befindet sich das Zwischenhirn mit seinem limbischen System. Letzteres besteht aus einer Ansammlung von Strukturen wie beispielsweise aus Hippocampus, Mandelkern (Amygdala) und Hypothalamus, die in emotionales Verhalten involviert sind und für die langfristige Speicherung von Informationen verantwortlich sind. Der obere Teil des Zwischenhirns heißt Thalamus und ist in eine linke und rechte Hälfte geteilt. Der untere Teil wird als Hypothalamus bezeichnet. Dieser beinhaltet unter anderem das Kontrollzentrum für Nahrungsaufnahme. Alle Informationen, die ins Großhirn gelangen, unterliegen vorher der Kontrolle des Zwischenhirns. Jede Information passiert beispielsweise den Thalamus auf dem Weg zum großen ``Analysator'', der vereinfacht ausgedrückt für die geistigen Fähigkeiten des Menschen verantwortlich ist. Als eine wichtige Schaltstation leitet der Thalamus mit Ausnahme des Geruchs alle Sinnesimpulse, die über aufsteigende (afferente) Fasern (Nerven) transportiert werden, zur Großhirnrinde.
Die kognitiven Leistungen des Menschen sind in erster Linie mit dem Großhirn, insbesondere mit der Großhirnrinde (Kortex) in Beziehung zu setzen. Die stark gefurchte Oberfläche des Kortex ist nur etwa zwei Millimeter dick und in mehrere Windungen und Furchen gefaltet. Weiterhin ist die Großhirnrinde deutlich in zwei Gehirnhälften gegliedert, die linke und die rechte Hemisphäre. SCHWARZ (:62) faßt die Großhirnrinde mit ihren beiden Hirnhälften als eine Art Doppelorgan auf und setzt damit stillschweigend voraus, daß die beiden Gehirnhälften Spiegelbilder voneinander sind. Die meisten Forscher sind sich mittlerweile aber darüber einig, daß die linke Hemisphäre größere kortikale Abschnitte der Sprachfelder aufweist als die symmetrischen Zonen auf der anderen Hemisphäre und daher als sprachdominant betrachtet werden kann (POPPER/ECCLES :359). Befunde bei etwa 80% menschlicher Gehirne zeigen Asymmetrien mit speziellen Ausformungen der Großhirnrinde in den Gebieten sowohl der vorderen als auch hinteren Sprachzentren. Forscher hoffen, letztlich die unterschiedlichen Spezialisierungen der beiden Hirnhälften beim Menschen anhand der anatomischen Asymmetrien erklären zu können. Doch einige von ihnen weisen darauf hin, daß die Spezialisierung bestimmter mentaler Fähigkeiten ein durch das ganze Leben fortschreitender Prozeß ist (vgl. LEISCHNER ).
Die Vorstellung, daß menschliche Gehirn sei funktionell asymmetrisch organisiert, geht auf Broca zurück. Seine Vorstellung beruhte auf der Annahme, die linke Hemisphäre sei die intelligente, sprach- und vernunftbegabte Seite des menschlichen Gehirns, während der rechten sprachlosen zu mißtrauen sei. Die rechte Hemisphäre befinde sich in einem dauerhaft animalischen Zustand und berge minderwertige Prozesse in sich, die der Kontrolle des Bewußtseins nicht zugänglich gemacht werden können (vgl. ENDER 1994). Der Wendepunkt zu einer Einbeziehung beider Hemisphären in das Geschehen mentaler, vornehmlich aber sprachlicher Abläufe vollzog sich Mitte der sechziger Jahre dieses Jahrhunderts mit dem Aufkommen unterschiedlicher Untersuchungsmethoden, die eigens zur Klärung der Verteilung cerebral höherstehender Funktionen auf beide Hemisphären entwickelt worden sind. Mit diesen Methoden kann man Einblick in die Überwertigkeit der Gehirnhälften erhalten. Da unter bestimmten Bedingungen die linke Hemisphäre nur Informationen des rechten Auges wahrnimmt, und die rechte Hemisphäre nur Informationen des linken Auges, können mit der Methode der gesichtsfeldabhängigen Reizdarbietung, mit dem sogenannten Visual-Half-Field-Test (VHF-Methode), die unterschiedlichen Leistungen der Gehirnhälften überprüft werden. Diese tachistoskopische Darbietung bewirkt nämlich, daß nur eine Hemisphäre von einem visuellen Reiz erreicht wird. Dabei darf die maximale Darbietungsdauer von 150 ms nicht überschritten werden, da sonst ein Informationsaustausch beider Hemisphären vor allem über das Corpus callosum stattfindet. Eine zweite Methode ist das dichotische Hören, welches analog zur VHF-Technik funktioniert, indem nun auf beide Ohren auditorische Reize gegeben werden. Obwohl akustische Informationen von beiden Hemisphären verarbeitet werden, konnte nachgewiesen werden, daß die überkreuzende (kontralaterale) Verarbeitung von wesentlicher funktioneller Bedeutung ist. Diese beiden Testverfahren haben den großen Vorteil, daß Untersuchungen an gesunden Versuchspersonen möglich sind.
Mit Hilfe der tachistoskopischen Darbietung kann gezeigt werden, daß sprachliche visuelle Reize, die dem rechten Gesichtsfeld präsentiert werden, wesentlich schneller und sicherer erkannt werden als solche, die dem linken Gesichtsfeld dargeboten werden. Hier liegt ein ``right-visual-field-advantage'' (RVF) vor. Bei der Darbietung nicht-sprachlicher visueller Reize wird der umgekehrte Effekt beobachtet. In diesem Fall werden die präsentierten Reize von dem linken Gesichtsfeld besser verarbeitet als von dem rechten. Hier kommt ein ``left-visual-field-advantage'' (LVF) zum Ausdruck. Bei den Ergebnissen der meisten dichotischen Untersuchungen zeigt sich, daß das rechte Ohr eine bessere Fähigkeit zum Erkennen sprachlichen Materials aufweist als das linke. Analog zum RVF-Effekt kommt hier ein ``right-ear-advantage'' (REA) zur Geltung. Demgegenüber verarbeitet das linke Ohr alles nicht-sprachliche Material wirksamer als das rechte und man spricht hier von einem ``left-ear-advantage'' (LEA). Diese beiden Methoden bestätigen und bekräftigen die Dominanz oder Überwertigkeit der linken Hemisphäre für sprachliche Stimuli. Die rechte Gehirnhälfte hingegen ist der linken bei der Verarbeitung aller nicht-sprachlichen [...] Reize überlegen (HEESCHEN/REISCHIES :41). Sie verfügt aber noch über weitere Kompetenzen, wie beispielsweise über musikalische Fähigkeiten und über räumlich-visuelle Orientierung. Diese strenge Dichotomie ist bei genauer Betrachtung aber eine Vereinfachung (SCHWARZ :66) und bei intensiver Auseinandersetzung mit diesen Studien ist zu erkennen, daß die rechte Hemisphäre keineswegs sprachlich so inkompetent ist wie zunächst stillschweigend angenommen (HEESCHEN/REISCHIES :43).
Zieht man die Erkenntnisse noch hinzu, die aus den sogenannten Split-Brain-Operationen
gewonnen werden konnten und heute immer noch neue Befunde erlauben, so
ergibt sich bezüglich der rechtshemisphärisch mentalen Fähigkeiten
die Notwendigkeit, die Vorstellung der Zweiteilung nonverbal/verbal aufzugeben.
ZAIBEL (1972) war der erste Forscher, der die rechtshemisphärische
Sprache bei Split-Brain-Patienten
systematisch untersuchte. Dabei konnte er zeigen, daß die rechte
Hemisphäre über einen rezeptiven Wortschatz verfügt, dessen
Umfang etwa dem eines vierzehnjährigen Kindes entspricht. Gegenstände,
die in die rechte Gesichtsfeldhälfte projiziert wurden, konnten zwar
nicht benannt, aber aus einer Anzahl von Gegenständen mit der linken
Hand richtig ausgewählt werden. Die rechte Hemisphäre weiß
also, was sie sieht, kann diese Information nur nicht ohne weiteres verbalisieren
(vgl. SPRINGER/DEUTSCH (). Experimente
bei Split-Brain-Patienten belegen, daß die rechte Hemisphäre
eindeutig sowohl über rezeptive als auch über produktive Kompetenzen
auf dem sprachlichen Gebiet verfügt, allerdings überwiegt die
rezeptive Seite bei der Verarbeitung sprachlicher Stimuli (vgl. BRADSHAW/NETTLETON
1981). Die rechtshemisphärische Sprachproduktion besteht hauptsächlich
aus Klischees und konventionellen Redewendungen (z.B. Guten Tag)
und aus der Verwendung konkreter hochfrequenter (häufig vorkommender)
Wörter (vgl. LEUNINGER 1989). Abstrakte, hochfrequente Wörter
hingegen werden in erster Linie von der linken Hemisphäre verarbeitet.
Wissenschaftler nehmen an, daß sprachliche Stimuli, welche nicht
analytisch verarbeitet werden müssen, jedoch als holistische oder
Gestalteinheiten abgerufen werden können (LEUNINGER 1989:6), auch
von der rechten Hemisphäre erzeugt werden. Für den Bereich der
syntaktischen und phonologischen Kompetenzen muß aber eindeutig die
Dominanz der linken Hemisphäre bestimmt werden (vgl. ENDER 1994).
Hinzu kommt, daß die linke Hemisphäre ihren Wortschatz taxonomisch
organisiert, also in Kategorien von Ober- und Unterbegriffen, während
die rechte Gehirnhälfte ihren Wortschatz in Termen von assoziativ
angereicherten, gestalthaft leicht zugänglichen und vorstellbaren
ganzen Situationen speichert (HEESCHEN/REISCHIES :53).
So ist die rechte Hemisphäre immerhin in der Lage, konkrete Assoziationen
zu bilden (wie z.B. Bleistift - wird zum Schreiben benutzt) und
verfügt auch über die Fähigkeit, bis zu vier Assoziationen
pro dargebotenen Begriff zu vollziehen (wie z.B. Löffel: Suppe
- Koch - Gabel - Besteck). Die Klasse der abstrakten Assoziationen
kann jedoch nur von der linken Hemisphäre bewältigt werden (wie
z.B. Löffel: Ernährung).
Bemerkenswert ist die Tatsache, daß bei Verletzungen in der rechten
Hemisphäre auch aphasische Symptome auftreten. So können Benennstörungen
und Wortschatzdefizite durch rechtshemisphärische Läsionen ausgelöst
werden. Empirische Untersuchung weisen auch auf Formen von Agrammatismus
hin, die ansonsten nur in Verbindung mit Broca-Aphasien genannt werden.
Nicht selten führen Läsionen in der rechten Hemisphäre zu
Störungen in der Verwendung und dem Verständnis metaphorischer
Aussagen. Sprichwörter (wie z.B. Lügen haben kurze Beine.)
können nur noch in ihrer wortwörtlichen Bedeutung, d.h. auf rein
propositionaler Aussageebene verstanden und erklärt werden. Die linke
Hemisphäre ist nicht in der Lage, in den Sprichwörtern oder Metaphern
die jeweiligen sprachlichen Bilder zu erkennen. So würde die linke
Hemisphäre die Metapher ein schweres Herz, nicht als eine Bezeichnung
für eine traurige Stimmung verstehen, sondern als eine in Gramm und
Kilogramm meßbare Eigenschaft des Herzens interpretieren. Die rechte
Hemisphäre ist ebenfalls in der Lage, die aphasische Sprachproduktion
der linken Seite zu unterstützen.
Linkshemisphärische Aphasiker, deren rechte Hemisphäre durch
eine Injektion von
Natrium-Amytal-Lösung
kurzfristig inaktiviert wurde, verloren bemerkenswerterweise jegliches
Sprachvermögen (vgl. ENDER 1994). So kann vermutet werden, daß
die sprachlichen Resterscheinungen wie Automatismen, emotionales Sprachgut
wie Tabuwörter,
die bei Globalaphasikern beobachtet werden können, expressive Leistungen
der rechten Hemisphäre sind. Im Gegensatz dazu betonen HEESCHEN/REISCHIES
(:52) in ihrer Arbeit die enge
Verbindung von Emotionalität und rechter Gehirnhälfte und kommen
zu der Folgerung, rechtshemisphärisch keine spezielle sprachliche
Fähigkeit anzunehmen. Die rechte Gehirnhälfte zeige
keine Dominanz für einen speziellen Subaspekt von Sprache, sondern wäre lediglich Ausdruck und Folge ihrer engeren Verbindung mit Emotionalität.Generell verfolgen beide Autoren in ihrer Arbeit das Ziel, die rechte Hemisphäre bezüglich ihrer sprachlichen Fähigkeit abzuwerten, und die linke Hemisphäre wieder zur exklusiv dominanten Hemisphäre für Sprache beim Erwachsenden zu machen. Der Split-Brain Forscher Michael S. Gazzaniga kommt zu dem Schluß,
(HEESCHEN/REISCHIES :52)
daß unsere ersten Fälle Ausnahmen waren, denn bei den meisten Menschen kann die rechte Hemisphäre nicht einmal einfachste sprachliche Aufgaben bewältigen. Das besagen auch neurologische Befunde von Schlaganfallpatienten: Die Folgen eines linksseitigen Hirninfarkts sind für das Sprachvermögen wesentlich fataler.Trotzdem muß davon ausgegangen werden, daß die rechte Hemisphäre einen ganz spezifischen Beitrag zur verbalen Kommunikationsfähigkeit leistet. Nur sie allein ist in der Lage, emotionale Intonation und metaphorische Wendungen zu interpretieren. Ihre konnotative, assoziative und bildhafte Interpretation von Sprache darf nicht ignoriert werden.
(GAZZANIGA 1998:87)
Diese spezifische und ausschließlich der rechten Hemisphäre zukommende Kompetenz mag zwar, je nach Sprachauffassung, als eine nichtsprachliche gedeutet werden, sie ist aber dennoch als essentieller Teil pragmatischer Möglichkeitsbedingungen verbaler Kommunikation von außerordentlicher Bedeutung. Sie erst stellt die einzelne Äußerung in ihren kontextuellen Bezugsrahmen, sichert die Diskursfunktionen der Sprache und die Abläufe und Inhalte normaler, also gelungener Kommunikation.Seit der Einführung der Computertomographie werden in zunehmendem Maße auch aphasische Störungsbilder bei Patienten mit subkortikalen Läsionen, insbesondere im Thalamus, beobachtet. Vor diesem Hintergrund liefert die abschließende Betrachtung einen Einblick über die spezifischen sprachverarbeitenden Funktionen des Thalamus.
(ENDER 1994:228)
daß Läsionen thalamischer Kerne der sprachdominanten Hemisphäre - vor allem bei Thalamusblutungen - umschriebene und zum Teil schwergradige und anhaltende sprachliche Ausfälle verursachen können. Das Störungsbild ist durch eine reduzierte spontane Sprachproduktion und semantisch-lexikalische Defizite bei relativ erhaltenen Sprachverständnis- und Nachsprechleistungen charakterisiert.Versuche mit elektrischen Reizungen des Thalamus haben ergeben, daß ihm beim Sprechen zwei grundlegende Funktionen zukommen. Nach dem Neurochirurgen George Ojemann steuert der Thalamus einerseits die Aufmerksamkeit auf sprachliche Stimuli in seiner Umwelt und sorgt für einen korrekten verbalen Abruf aus dem sprachlichen Gedächtnisspeicher, und andererseits kontrolliert er die Atmung und Sprechmuskulatur während des Sprechvorgangs (vgl. CALVIN/OJEMANN 1995).
(ZIEGLER 1997:134)