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Wortfindungsstörungen bei Aphasikern und Versprecher bei Gesunden

Aus Untersuchungen aphasischer Wortfindungsstörungen und von Sprechfehlern bei Gesunden erhofft man sich Erkenntnisse über die an der Produktion von Wörtern (lexikalischen Einheiten) beteiligten Komponenten und Prozessen. Die Komponente, der innerhalb der Sprachverarbeitung eine wichtige Rolle zukommt, ist das mentale Lexikon, jener Teil des Gedächtnisses, der unser gesamtes Wortwissen enthält.gif Der folgende Abschnitt soll einen kurzen Einblick in die Erkenntnisse geben.

Wortfindungsstörungen bei Aphasikern sind sehr häufig zu beobachten. Sie gehören zum allgemeinen Krankheitsbild jedes aphasischen Syndroms und äußern sich in der vorübergehenden oder auch anhaltenden Nichtverfügbarkeit eines Wortes.gif Steht dem Patienten ein Wort (z.B. Pferd) nicht zur Verfügung, können in der Spontansprache oder in Benennaufgaben bestimmte Strategien festgestellt werden, die dem Zielwort inhaltlich (z.B. Hund) und/oder lautlich (z.B. Pfaun, Pfenning) nahe kommen. Hierher gehören die Umschreibungen, die semantischen/phonematischen Paraphasien, Nullreaktionen oder auch die Neologismen. Aus diesen Fehlern können Rückschlüsse über die Struktur des mentalen Lexikons gezogen werden. Die unterschiedlichen Fehlerarten stehen allerdings nicht in enger Beziehung zu bestimmten aphasischen Syndromen (KREMIN/OHLENDORF 1988).gif Vor diesem Hintergrund sind Wortfindungsstörungen nicht geeignet, Aphasieformen voneinander zu unterscheiden. Einschränkend muß jedoch betont werden, daß das Ausmaß dieser Fehlerarten je nach aphasischem Syndrom variiert.

Auch Sprachgesunde haben manchmal Wortfindungsstörungen. Psycholinguistische Studien belegen, daß bestimmte Fehlerarten aphasischer Wortfindungsstörungen häufig qualitativ mit denen korrelieren, die auch bei Sprachgesunden auftreten. Die Forschung geht davon aus, daß aphasische Wortfindungsstörungen in komprimierter Form zeigen, welche Probleme der Sprachgesunde von Zeit zu Zeit mit seiner Wortsuche hat. Seine Wortfindungsprobleme machen sich durch bestimmte Wortsuchprozesse und/oder Versprechergif (``slips of the tongue'') bemerkbar. Bei Wortsuchprozessen kann es zu Stockungen oder längeren Pausen im Redefluß kommen, wobei Pausen häufig mit Interjektionen wie äh, ähm, na ausgefüllt werden. Ein besonders hervorstechendes Phänomen ist die Tatsache, daß Sprachgesunde von Zeit zu Zeit das Gefühl haben, ihnen ``liege das Wort auf der Zunge'', welches sie nicht äußern können. Dieses sogenannte Tip-of-the-tongue-Phänomen (TOT) beinhaltet, daß dem Sprecher sehr wohl die Bedeutung eines abzurufenden Wortes bekannt ist, ihm aber die passende Wortform/Lautstruktur nicht zugänglich ist. Der Sprachgesunde kann zu dem gesuchten Wort wie beispielsweise SEXTANT die konzeptuelle Repräsentation SEXTANT erschließen, d.h. im Prinzip wissen, daß es sich um ein Instrument handelt, welches die Seeleute zur Ortsbestimmung benutzen; die lautliche Repräsentation von Sextant steht dem Sprecher jedoch nicht zur Verfügung. Psycholinguistische Studien haben dieses TOT-Phänomen experimentell nachgewiesen, wobei gezeigt werden konnte, daß Probanden, die ein weniger geläufiges Wort bei Vorgabe der dazugehörigen Definition abrufen sollen, teilweise die Information über Silbenstruktur und Anfangsbuchstaben bewußt ist, aber das Zielitem durch den TOT-Zustand insgesamt nicht hervorbringen können (vgl. BROWN/MCNEILL 1966). Diese Tatsache berechtigt die psycholinguistischen Wissenschaftler zu der Annahme, daß die Bedeutung und Ausdruck getrennt voneinander bestehen und widerlegt auf diese Weise das Zeichenmodell von DE SAUSSURE (1916). Dieses besagt, Inhalt/Bedeutung und Ausdruck seien durch Assoziation so unlösbar miteinander verbunden wie Vorder- und Rückseite eines Blattes. Es bestünde sozusagen ein untrennbares und willkürliches (arbiträres) gegenseitiges Einander-ins-Gedächtnis-Rufen (reziproke Evokation) zwischen Inhalt und Ausdruck eines Zeichens.

Eine weitere Evidenz für die Trennbarkeit von Bedeutungs- und Lautstruktur ist auch in der Aphasieforschung zu finden. Manchmal befinden sich auch aphasische Patienten in einem TOT-Zustand und äußern dann sogar ``Es liegt mir auf der Zunge, aber ich bring's nicht raus'' (vgl. GOODGLASS et al. 1976).

Neben diesen Wortsuchprozessen lassen sich noch bestimmte Versprecher als Symptome von Wortfindungsstörung bei Sprachgesunden interpretieren. Versprecher, Fehler, die unwillentlich in der ungestörten Sprache eines Sprechers auftreten, lassen sich in zwei Hauptgruppen aufteilen: Montagefehler gif und Selektionsfehler. Letztere bestehen aus Fehlern, die dem Zielwort bedeutungsähnlich (z.B. Zweig statt BAUM) und/oder lautähnlich sind (z.B. Auf jeden Fall ist mein Großvater jetzt achtzehn statt ACHTZIG; Da sind aber auch einige variable Instrumente drin statt ELEMENTE) (vgl. AITCHISON 1997). Solche Selektionsfehler können dem Psycholinguisten Anhaltspunkte für die semantische Struktur des Lexikons liefern, wenn man davon ausgeht, daß das unwillentlich geäußerte Wort in enger Beziehung zu dem intendierten Wort steht. In bezug auf die aphasischen Fehlerarten, die sich bei Wortfindungsstörungen herauskristallisieren, zeigen die phonematischen und semantischen Paraphasien die gleichen Effekte wie die Selektionsversprecher bei Normalsprechern. Auch aphasische Patienten produzieren auffällig häufig Wörter, die dem Zielwort semantisch oder phonematisch ähnlich sind. Einige aphasische Fehlerarten korrelieren aber nicht mit denen Sprachgesunder, hierzu zählen insbesondere die Neologismen.

Eine Besonderheit unter den aphasischen Wortfindungsstörungen sind die Kategorieneffekte. Kategorienspezifische Wortfindungsstörungen betreffen allerdings nie alle Bereiche des Lexikons gleichzeitig, sondern immer nur bestimmte Gruppen selektiv. Zu beobachten ist, daß die Wortgruppen sich offensichtlich nach morphologischen, syntaktischen und semantischen Kriterien ordnen lassen. Eindeutige Hinweise erhält man beispielsweise aus Studien der Spontansprache von Broca- und Wernicke-Aphasikern. Vergleicht man beide Syndrome, so fällt auf, daß sie sich in der Verfügbarkeit von Inhaltswörtern (Nomina, Verben, Adjektive und Adverbien) und Funktionswörtern (wie z.B. Artikel, Pronomina, Hilfsverben) unterscheiden. Broca-Aphasiker produzieren mehr Inhaltswörter, Wernicke-Aphasiker hingegen relativ viele Funktionswörter. Nach GARRETT (1982) liegen diesen Unterschieden Wortfindungsstörungen zugrunde. Seine Annahme von zwei Lexika (in dem einen sind die Inhaltswörter, im anderen die Funktionswörter gespeichert) gibt ihm die Möglichkeit, Aussagen über die zugrundeliegenden Beeinträchtigungen beider Syndrome zu machen. Der Wernicke-Aphasiker könnte demnach insbesondere im Zugriff auf das Lexikon der Inhaltswörter beeinträchtigt sein, während der Broca-Aphasiker nur mangelhaften Zugriff auf das Lexikon der Funktionswörter hat.gif

Aphasiker zeigen nicht nur Unterschiede in der Verfügbarkeit von Inhaltswörtern und Funktionswörtern. Auch innerhalb der Inhaltswörter können kategorienspezifische Wortfindungsstörungen auftreten, die als semantische Kategoriendefizite bezeichnet werden. Untersuchungen der Spontansprache von Broca- und Wernicke-Aphasikern zeigen weiterhin, daß sie über verschiedene Arten von Nomina verfügen. Broca-Aphasiker produzieren hauptsächlich konkrete und abbildbare Wörter, die im normalen Sprachgebrauch häufig angebracht werden (= hochfrequente Wörter). Wernicke-Aphasiker, aber auch amnestische Aphasiker, produzieren häufig unkonkrete und nicht-abbildbare Wörter.

Weiterhin zeigen Aphasiker semantische Kategoriendefizite für Wörter, die beispielsweise Lebewesen, Früchte und Gemüse, Körperteile oder Eigennamen bezeichnen. Auch Ausdrücke zur Bezeichnung von Gegenständen sowie Farbbezeichnungen können von Wortfindungsstörungen betroffen oder verschont sein. Hier liegen also Störungen vor, wo ein Teil der Nomina schlechter als die übrigen verfügbar ist. Es lassen sich aber auch Wortfindungsstörungen beobachten, die selektiv Gegenstände oder Handlungen betreffen. In diesen Fällen verfügen Aphasiker über spezifische Defizite für Nomina oder Verben. Letztere repräsentieren die Kategorie zur Bezeichnung von Handlungen, erstere vertreten grob vereinfacht die Kategorie zur Bezeichnung von Gegenständen. Allerdings sind diese Auffälligkeiten nicht mehr als semantische Kategoriendefizite sondern als wortartenspezifische Wortfindungsstörungen zu betrachten. Kategorienspezifische Wortfindungsstörungen können Aufschluß darüber geben, welche Ordnungskriterien dem mentalen Lexikon zugrunde liegen.

The first level of explanation is to propose that the brain's lexicon is organized by categories; this is no more than a description of the phenomenon and leads to a dead end.
(GOODGLASS 1993:90)
Im nächsten Kapitel soll auf einige kategorienspezifische Wortfindungsstörungen hinsichtlich ihrer unterschiedlichen materiellen Lokalisierbarkeit im Gehirn eingegangen werden. Forscher gehen davon aus, daß semantische Kategorien im Gehirn lokalisierbar sind und daß kategorienspezifischen Wortfindungsstörungen Schädigungen der entsprechenden Struktur zugrunde liegen.
The most straightforward interpretation of the data is that these dissociations reflect quite directly the categories of knowledge represented in the brain, and, therefore, that objects and actions, animate and categories, and so forth, are, in fact, the basic semantic `kinds' that are neurally implemented.
(RAPP/CARAMAZZA 1995:906)

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Sun Jan 30 19:15:22 MET 2000