Heute ist die Neurolinguistik ein etabliertes interdisziplinäres Forschungsgebiet, das seinen Anfang in der neurologischen Aphasielehre von Broca und Wernicke nimmt. Diese mittlerweile schon fast einhundert Jahre bestehende aphasiologische Disziplin ist besonders in den letzten beiden Jahrzehnten mit den Mitteln der Psychologie und Linguistik weiterentwickelt worden, wobei ein Wissenschaftsgebiet hervorgebracht wurde, das gegen Ende des 20. Jahrhunderts zu den spannendsten Bereichen der Forschungsgeschichte zählt. Wer den Terminus Neurolinguistik erfunden hat, ist weitgehend unbekannt, jedoch können erste Rückschlüsse über seine Begriffbestimmung aus der Zusammensetzung dieses Wortes gezogen werden. So ist der Ausdruck Neurolinguistik für ein Arbeitsgebiet vorgesehen, das sich mit der Beziehung zwischen Sprache und den relevanten Anteilen des Nervensystems, die der Sprache beziehungsweise Sprachverarbeitung zugrunde liegen (BLANKEN 1991:1), beschäftigt. Demnach besteht die Arbeit eines Neurolinguisten darin, Zusammenhänge zwischen Gehirnvorgängen und sprachlichem Handeln aufzuklären. Doch sowohl LEISCHNER () als auch PULVERMÜLLER (1992) müssen enttäuscht feststellen, daß Neurolinguistik vor allem von Linguisten ohne Rückgriff auf neuronale Grundlagen betrieben wird und erachten es als besonders wichtig, dem Linguisten anatomisch-physiologische Grundlagen zu vermitteln und LEISCHNER () betont:
Durch die allgemeinen Kenntnisse der anatomischen und physiologischen Grundlagen des Sprachvermögens und seiner Störungen wird der Sprachwissenschaftler eine viel realere Grundeinstellung zu allen seinen linguistischen Überlegungen bekommen.Die Begriffsbestimmung zum Terminus Neurolinguistik hat meines Erachtens BLANKEN (1991) gut herausgearbeitet. So werden innerhalb der Neurolinguistik drei Untergruppen unterschieden, die den interdisziplinären Charakter kennzeichnen. Innerhalb des ersten Unterbereichs steht der von LEISCHNER () und PULVERMÜLLER (1992) geforderte Ansatz, hirnanatomische Lokalisation sprachlicher Funktionen und physiologische Grundlagen sprachlicher Prozesse (BLANKEN 1991:1) zu studieren. Heute stehen der Forschung Techniken bereit, die es im Unterschied zu den früheren Post-mortem-Untersuchungen ermöglichen, Einblick in die Gehirnaktivitäten eines lebenden Menschen zu bekommen. Untersuchungsgegenstand in diesem Bereich der Neurolinguistik sind sowohl sprachgestörte als auch sprachgesunde Probanden. Von beiden Gruppen liegen mittlerweile sogenannte EEG- und PET-Studien vor, die erkennen lassen, welche Gehirnregionen in welche linguistische Phänomene involviert sind. Innerhalb der zweiten Untergruppe steht die klinisch-diagnostische Einteilung von Patienten mit neurogenen Sprachstörungen in Gruppen beziehungsweise Syndrome mit geeigneten Test- und Prüfverfahren (BLANKEN 1991:2) im Vordergrund. Am Ende des vorherigen Abschnitts wurde auf die Bedeutsamkeit aber auch auf die Problematik hingewiesen, Patienten in differentierte Syndromklassen einzuteilen. Innerhalb der dritten Untergruppe der Neurolinguistik steht nach BLANKEN (1991) die kognitive Neurolinguistik. Diese führt eine enge Beziehung zu dem Teilbereich der Psycholinguistik, der seit den siebziger Jahren kognitive Theorien dem Phänomen ``Sprache'' zugrundelegt. Im Unterschied zu der vorherigen Forschungsrichtung der Psycholinguistik, sprachliche Äußerungen seien nur über beobachtbares Reiz/Reaktions Verhalten zu beschreiben, geht die heutige Forschung in der Psychologie (Kognitive Psychologie) und Linguistik (Kognitive Linguistik) davon aus, die Sprachfähigkeit des Menschen als ein mentales Phänomen aufzufassen. Sprache ist somit ein spezifischer Teil der Kognition, des menschlichen Geistes, der nach SCHWARZ (:39) die Menge aller geistigen Strukturen und Prozesse darstellt und die Gesamtheit aller menschlichen Wissensaktivitäten umfaßt. Vor diesem Hintergrund wird jede sprachliche Äußerung als eine Reihe von nicht beobachtbaren Verarbeitungskomponenten angenommen. Anders ausgedrückt: Es wird versucht, aus den beobachtbaren Leistungen zu schließen, über welches Wissen ein Mensch verfügt und mit Hilfe welcher Prozesse er dieses Wissen nutzt, um neue Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten. Nach KELTER (1990:12) wird jede beobachtbare Leistung als Endprodukt von nicht-beobachtbaren Leistungen aufgefaßt. Unter diesem theoretischen Ansatz ist die Psycholinguistik heute eine Wissenschaft, die sich mit den Prozessen des Sprachverstehens, der Sprachproduktion und des Spracherwerbs befaßt. Dazu werden Modelle erstellt, die aus der Betrachtung des Sprachverhaltens von Normalsprechern gewonnen werden. Die kognitive Neurolinguistik und ihre Schwesterdisziplin, die ``linguistische Aphasiologie'', verfolgen das Ziel, aphasische Symptome linguistisch zu beschreiben und zu bestimmen, welche Verarbeitungskomponente oder welcher Prozeß bei welchem aphasischen Symptom gestört ist. Nach BLANKEN (1991) ist es das erklärte Ziel der dritten Untergruppe der Neurolinguistik,
(LEISCHNER :418)
eine Beziehung herzustellen zwischen linguistischen und psycholinguistischen Theorien auf der einen Seite und pathologischen Sprachverhaltensmustern, die durch Hirnschädigungen bedingt sind, auf der anderen Seite.Dabei ist die Betrachtung von Dissoziationen und Assoziationen eine bedeutende Methode, um genauere Informationen über die Organisation intakter mentaler Vorgänge zu erhalten. Eine Dissoziation wird angenommen, wenn z.B. ein Patient X bei der Aufgabe 1 beeinträchtigt ist, aber normale Leistung bei Aufgabe 2 zeigt. Beispielsweise kann der Patient im Lesen gestört sein, aber Gesichter gut erkennen. Eine doppelte Dissoziation ergibt sich, wenn zwei Patienten betrachtet werden, die spiegelbildliche Störungen aufweisen. Beispielsweise ist Patient X im Lesen beeinträchtigt, aber im Erkennen von Gesichtern ungestört, während Patient Y Wörter ungestört erkennen kann, aber beim Erkennen von Gesichtern beeinträchtigt ist (vgl. ELLIS/YOUNG 1991).
(BLANKEN 1991:2)
Diesem Vorgehen liegen die Fraktionierungs- und die Transparenzhypothese zugrunde. Die Fraktionierungshypothese (nach CARAMAZZA 1984) basiert auf der Annahme, daß Hirnschädigungen immer nur selektiv einzelne Komponenten der Sprachverarbeitung stören können. Die Transparenzhypothese besagt, daß die erhaltenen ungestörten Verarbeitungskomponenten weiterarbeiten können, da sich die gestörten Verarbeitungskomponenten nicht auf die ungestörten Komponenten ausweiten. Somit können die erhaltenen kognitiven Verarbeitungsprozesse bei hirnverletzten Patienten Hinweise über die normale Sprachverarbeitung geben. Der angenommene regelhafte Zusammenhang zwischen normaler und gestörter Leistung stößt unweigerlich auf Probleme, die in der Aphasiologieforschung keineswegs unberücksichtigt bleiben. Eindeutig ist beispielsweise, daß aphasische Störungen nicht als eine statische, undynamische Größe aufgefaßt werden dürfen, sondern ein dynamisches Geschehen sind. Dies zeigt sich jedenfalls in der Plastizität des Gehirns, die bewirkt, daß nach einer Hirnläsion im Sprachzentrum - zumindest bis zu einem gewissen Lebensalter - andere nicht sprachspezifische Regionen Sprachfunktionen übernehmen können. Doch wie die neurophysiologischen Mechanismen im einzelnen arbeiten, ist bislang noch nicht vollständig geklärt.
Die Neurolinguistik ist innerhalb der Linguistik von der Patholinguistik
und Klinischen Linguistik abzugrenzen. Die Patholinguistik - ein von PEUSER
(1978) geprägter Ausdruck - beschäftigt sich nicht nur mit vaskulär
bedingten Sprachstörungen, sondern auch mit nicht-organisch bedingten
Sprachdefiziten wie beispielsweise mit Sprachentwicklungsstörungen
bei Kindern.
Die Klinische Linguistik ist eine Disziplin der Angewandten Linguistik,
bei der Diagnose und Therapie von Aphasien und psychisch bedingte Beeinträchtigungen
in der sprachlichen Kommunikation im Vordergrund stehen. Nach RICKHEIT
(1992:18) ist die Klinische Linguistik eine sehr junge anwendungsorientierte
Teildisziplin der Linguistik, die gegenwärtig dabei ist, sich
einen festen Forschungsplatz in Kliniken und Universitäten aufzubauen.