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Das mentale Lexikon

Die Frage, was ``in unserem Kopf'' ist und was in ihm vorgeht, wenn wir mit Sprache, speziell mit Wörtern, umgehen, scheint eine ungeheure Faszination auszuüben und den Vorhang über ein gewaltiges Reich spannender Spekulationen zu lüften.
(HARRAS 1995:1)
DAMASIO/DAMASIO (1994) beispielsweise haben gezeigt, daß der Wortspeicher nicht nach einem Zufallsprinzip ``in unserem Kopf'' angelegt ist, sondern äußerst rationell strukturiert ist. Weiterhin verstärken der große Speicherumfang von bis zu 150.000 Wörtern bei Erwachsenen und der schnelle Zugriff auf diesen Wortspeicher die Vorstellung von einem höchst ökonomischen System.gif Die Neurolinguistik beispielsweise ist bemüht, anhand sprachpathologischer Störungsmuster der Struktur des mentalen Lexikons näher zu kommen. Hier wiederholt angeführte Befunde weisen eindeutig darauf, daß zwei Wortverarbeitungsebenen klar voneinander zu trennen sind, die Formseite einerseits und das Bedeutungssystem andererseits [...] (DE BLESER 1997:64).
Levelt und Mitarbeiter postulieren noch eine weitere Ebene der Wortverarbeitung, die sogenannte Lemma-Ebene. Diese Lemma-Ebene befindet sich zwischen dem lexikalischen Konzept auf der konzeptuellen Ebene und der phonologischen Form auf der Formebene (= Lexemebene).gif Die Auswahl der phonologischen und semantischen Merkmale eines Wortes erfolgt demnach über diese zusätzliche Ebene.gif Die graphische Darstellung 15 zeigt die zwischen zwei Ebenen postulierte Lemma-Ebene.

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Abbildung 15: Die Darstellung einer Wortrepräsentation (Quelle: WERANI 1997:50)

Ein lexikalischer Eintrag, der auch als mentale Wortrepräsentation bezeichnet wird, besteht also aus einem konzeptuellen Teil und einem lexikalischen Teil. WERANI (1997:48) weist in aller Klarheit daraufhin, daß ausschließlich dadurch, daß diese beiden Teile im mentalen Lexikon enthalten sind, eine Schnittstelle zwischen konzeptueller und verbaler Ebene besteht. Der konzeptuelle Teil der Wortrepräsentation ist in der Wortbedeutung enthalten. Darüber hinaus kann festgehalten werden, daß Syntax und Semantik sich überschneiden:

[...] und die Linguisten reden sich schon lange die Köpfe darüber heiß, wo die Grenze zwischen ihnen verläuft. Im mentalen Lexikon sind Bedeutung und Wortart wahrscheinlich keine separaten Bestandteile, die erst miteinander verknüpft werden müssen, sondern eine Einheit.
(AITCHISON 1997:128)
Vor diesem Hintergrund enthält das Lemma die sprachspezifischen, semantischen und syntaktischen Informationen und fungiert somit als Vermittler zwischen konzeptueller und phonologischer Ebene. Weiterhin ``zeigt'' das Lemma in Form eines ``lexical pointers'' auf eine korrespondierende phonologische Form. Das sogenannte Lexem enthält die phonologischen und morphologischen Informationen, die mit dem phonologischen Enkodierungssystem in Zusammenhang stehen. Durch die ``lexical pointers'' sind die Lemmata und Lexeme, die Bestandteile der supramodalen lexikalischen Repräsentation sind (BLANKEN 1996:34), eng aufeinander bezogen. Nach Levelt besteht gerade durch diese enge Verbindung eine frühe und gleichzeitig zum Lemma-Zugriff stattfindende phonologische Aktivierung. Ein solches Lemma-Lexem-Lexikon kann nach JESCHENIAK/LEVELT (1994) auch netzwerkartig in Form eines lexikalischen Netzwerks organisiert sein. AITCHISON (1997:268) und Mitarbeiter bevorzugen die Beschreibung der Sprachproduktion mit einer Darstellung aus der Elektrizität.
Bei der Sprachproduktion wird ein Strom normalerweise in der semantischen Komponente in Gang gebracht; dort wird ein semantisches Feld aktiviert und dann möglicherweise auf eine Gruppe heimischer Laubbäume eingegrenzt. Bevor die endgültige Auswahl getroffen wird, fließt der Strom zu den jeweiligen phonologischen ``Vorwahlnummern'', wo ein ganzes Arsenal von Wörtern ausgelöst wird. Die aktivierten Wörter werden zurück in den semantischen Bereich geleitet, wo sie weitere Wörter aktivieren. Alle Knoten zwischen den aktivierten Bereichen leuchten, bildlich gesprochen, auf, während der Strom zwischen ihnen hin- und herfließt. Bei jeder Rückwärtsbewegung werden neue verwandte Wörter aktiviert.
(AITCHISON 1997:268f.)
Hinsichtlich der menschlichen Sprache mit ihren mentalen Wortrepräsentationen zitieren DAMASIO/DAMASIO (1994:58) Patrica S. Churchland, die die Sprache als ``kognitive Verdichtung'' bezeichnet, sehr treffend: Sie hilft, die Welt nach Kategorien zu ordnen und die Komplexität der begrifflichen Strukturen auf ein erträgliches Maß zu reduzieren.
Daß lexikalische Einträge bzw. mentale Wortrepräsentationen nicht unverbunden im Gedächtnis abgespeichert sind, beschrieb schon der griechische Philosoph Aristoteles. Aus Beobachtungen seines eigenen Gedächtnisses erkannte er, daß die Bedeutungen der Wörter nach dem Prinzip der Ähnlichkeit oder des Kontrastes verbunden abgespeichert sind. Es erleichtert das Erinnern, und Kombinationen wie beispielsweise
Milch - weiß oder Stuhl - Tisch können schnell und leicht aktiviert werden. Beziehungen zwischen Lexikoneinträgen können aber auch unter anderen Gesichtspunkten betrachtet werden und sollen kurz angeführt werden, bevor die semantische Ordnung des mentalen Lexikons bzw. das semantische Gedächtnis eingehend behandelt wird. Die Relationen zwischen den mentalen Repräsentationen können auch syntaktischer, morphologischer und phonologischer Art sein.
  1. Ordnung nach syntaktischen Kriterien

  2. Eine Ordnung nach syntaktischen Kriterien ist vorstellbar, da im Falle einer Aphasie bestimmte syntaktische Klassen nur erschwert aktiviert werden können (vgl. Abschnitt 1.3). Demnach gibt es aphasische Patienten, die Substantive abrufen können, denen aber die Aktivierung von Verben mißlingt. Hinsichtlich der syntaktischen Verbindungen ist festzuhalten, daß die Wörter derselben Wortklasse enger miteinander in Beziehung stehen als Wörter verschiedener Wortklassen.
  3. Ordnung nach morphologischen Kriterien

  4. Bei der Betrachtung der Wortstämme ist anzunehmen, daß diese und die daraus abgeleiteten neuen Wörter ein Verbundsystem bilden. Kennzeichnend ist dabei die semantisch enge Beziehung innerhalb der morphologischen Verbindungen. Auf die Frage hin, ob Wortstückchen, wie Flexionsmorpheme sag-te, Kind-er-n und Wortbildungsmorpheme, wie malen - ab-/an-/aus-/übermalen, malbar, Maler, Bemalung im mentalen Lexikon eine Rolle spielen, kommen J. Aitchison und Mitarbeiter zu dem Schluß, daß Wörter als ganze Einheit gespeichert werden.
    Offensichtlich kann man also, wenn es nötig ist, die Wörter in ihre Morpheme zerlegen. Man nutzt diese Fähigkeit, wie gesagt, als Notlösung, um ein komplexes Wort zu konstruieren, wenn man sich auf normalem Wege nicht daran erinnern kann, oder wenn man eine komplexe Aufgabe zu lösen hat. Wahrscheinlich demontiert man ein Wort auch dann, wenn es sich um ein langes, kompliziertes handelt, über dessen Bedeutung man sich nicht im Klaren ist.
    (AITCHISON 1997:170)
  5. Ordnung nach phonologischen Kriterien

  6. Die Lautstruktur der Wörter unterliegt ebenfalls einer besonderen Ordnung. Da die Phonologie-Komponente bzw. das phonologische System eine schnelle Identifikation von Lauten bei der Sprachrezeption gewährleisten muß, weisen die Wortformen starke Verbindungen zu ähnlich klingenden Wörtern auf, wie abgespeckt zu abgepackt oder idiotische zu äthiopische (AITCHISON 1997:292). Kennzeichnend für das phonologische Ordnungsprinzip ist der sogenannte ``Badewanneneffekt''. So sind die Laute am Wortanfang und -ende leichter abrufbar gespeichert als die Laute im Mittelteil des Wortes. Lautstrukturen mit auditiv ähnlichem Wortanfang und -ende bilden tiefer eingeprägte und nahe beieinander liegende Gruppen. Diese Anordnung erleichtert zwar die Worterkennung, ist aber für die Wortproduktion äußerst hinderlich. Hierfür liefert Jean Aitchison einen Versprecher in englischer Sprache: I always masturbate (statt ``masticate'') my food properly (AITCHISON 1997:292). Bei der Wortproduktion wäre es im Gegensatz zur Wortwahrnehmung von Vorteil, wenn die zu einem intendierten Zielwort ähnlich klingenden Wörter weit entfernt abgespeichert wären, da für die Sprachproduktion die Bedeutungskomponente eine besondere Rolle spielt. Nach AITCHISON (1997) kann das mentale Lexikongif als ein gemischtes System betrachtet werden, das schon sehr alt zu sein scheint.
    Möglicherweise sind diese unterschiedlich organisierten Komponenten ein Überbleibsel einer sehr weit zurückliegenden Evolutionsphase, als Gedanken noch nicht in Worte gekleidet wurden, das Hören und Identifizieren von Geräuschen für das Überleben jedoch von größter Bedeutung war. Nun braucht man gleichzeitig Bedeutung und Laute, doch die Verbindungen zwischen ihnen sind relativ schwach, und manchmal reißen sie.
    (AITCHISON 1997:293)

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